David und Goliath
Woche spazierte er über den Campus von Harvard und staunte über sein Glück. »Mir kam plötzlich der Gedanke, dass alle Studenten hier einen Studienplatz an Harvard bekommen hatten. Es war ein komischer Gedanke, ich hatte auf einmal das Gefühl, dass alle Leute ummich herum total interessant, intelligent und aufregend waren und dass es eine tolle Erfahrung werden würde. Ich war total begeistert.«
Er erzählte fast wortwörtlich dieselbe Geschichte wie Caroline Sacks und unterstrich damit einmal mehr, wie bemerkenswert die Leistung der Impressionisten wirklich war. Sie waren Genies, aber sie hatten auch ein erstaunliches Maß an praktischer Vernunft. Sie waren in der Lage, etwas, das die meisten Menschen für ein Privileg halten würden, als das zu sehen, was es wirklich war. Monet, Degas, Cézanne, Renoir und Pissaro hätten sich nicht für die vermeintlich erste Wahl entschieden.
Vermutlich ahnen Sie längst, wie es Stephen Randolph in Harvard erging. Im dritten Jahr belegte er Quantenmechanik. »Ich war nicht besonders gut«, gibt er zu. »Ich glaube, ich habe eine Drei bekommen.« Es war die schlechteste Note seines Lebens. »Ich habe mir gedacht, entweder beherrsche ich das nicht, oder ich beherrsche es nicht gut genug. Vielleicht hatte ich das Gefühl, ich müsste der Beste sein, oder ich müsste ein Genie sein, damit es Sinn hatte, weiterzustudieren. Einige Leute schienen es viel schneller zu kapieren als ich – und man konzentriert sich immer auf diese Leute und nicht auf die anderen, die es genauso wenig kapieren wie man selbst.«
»Der Stoff hat mir gefallen«, fährt er fort. »Aber es war ein demütigendes Erlebnis. Man sitzt im Kurs und denkt, ›Das kapiere ich doch nie!‹. Und man macht Aufgaben und versteht ein bisschen hiervon und ein bisschen davon, aber man muss immer an die Leute denken, die viel mehr wissen. Das Ding mit Harvard ist, es gibt so viele intelligente Leute, dass es schwer ist, sich selbst intelligent zu fühlen.« Er kam zu dem Schluss, dass es besser war, sein Studium abzubrechen.
»Eine Mathematikaufgabe zu lösen kann ein unglaublich befriedigendes Erlebnis sein«, sagt Randolph, und ein wehmütiger Blick huscht über sein Gesicht. »Man steht vor einer Aufgabe und weiß nicht, wie man sie angehen soll. Aber es gibt bestimmte Regeln, die man anwenden kann, und verschiedene Ansätze, die man ausprobieren kann. Oft sind in diesem Prozess die Zwischenergebnisse viel komplexer als die ursprüngliche Aufgabe, aber das Endergebnis ist dann ganz einfach.Und auf dem Weg dahin empfindet man so etwas wie Freude.« Randolph studierte an seiner Traum-Universität. Aber bekam er dort auch die Ausbildung seiner Träume? »Ich glaube, ich bin ganz zufrieden mit dem Ergebnis«, sagt er. Dann lacht er ein wenig betrübt. »Das rede ich mir zumindest ein.«
Nach dem sechsten Semester beschloss Randolph, die Zugangsprüfung für die juristische Fakultät abzulegen. Nach seinem Abschluss fing er bei einer Anwaltskanzlei in Manhattan an. Harvard hat der Welt einen Physiker genommen und einen Anwalt geschenkt. »Mein Spezialgebiet ist das Steuerrecht«, sagt Randolph. »Schon komisch. Eine Menge Physik- und Mathematikstudenten landen beim Steuerrecht.«
TEIL 2
Die Theorie der wünschenswerten Schwierigkeiten
Damit ich mich wegen der einzigartigen Offenbarungen nicht überhebe, wurde mir ein Stachel ins Fleisch gestoßen: ein Bote Satans, der mich mit Fäusten schlagen soll, damit ich mich nicht überhebe. Dreimal habe ich den Herrn angefleht, dass dieser Bote Satans von mir ablasse. Er aber antwortete mir: Meine Gnade genügt dir; denn sie erweist ihre Kraft in der Schwachheit. Viel lieber also will ich mich meiner Schwachheit rühmen, damit die Kraft Christi auf mich herabkommt. Deswegen bejahe ich meine Ohnmacht, alle Misshandlungen und Nöte, Verfolgungen und Ängste, die ich für Christus ertrage; denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.
2 Korinther 12,7–10
KAPITEL 4
David Boies
Niemand würde seinem Kind Legasthenie wünschen. Oder vielleicht doch?
David Boies
1
Wenn man einen Menschen mit Legasthenie in einen Hirnscanner legt, erscheinen auf dem Bildschirm auffällige Bilder. In Gehirnregionen, die mit dem Lesen und Verarbeiten von Wörtern zusammenhängen, haben Legastheniker weniger Gehirnzellen als andere Menschen. Während der Entwicklung des Fötus im Mutterleib werden Neuronen in die verschiedenen Gehirnregionen transportiert und nehmen dort ihren Platz ein wie
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