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David und Goliath

David und Goliath

Titel: David und Goliath Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Malcolm Gladwell
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Damals machte er sich nicht viel daraus. In dem Dorf, in dem er aufwuchs, konnte man mit schulischen Glanzleistungen keine Lorbeeren ernten. Viele seiner Klassenkameraden verließen die Schule bei der erstbesten Gelegenheit, um auf der Farm ihrer Eltern mit anzupacken. Boies las Comics, denen er wegen der vielen Bilder leicht folgen konnte. Zum Vergnügen las er nie. Selbst heute liest er höchstens ein Buch pro Jahr, wenn überhaupt. Er sieht fern – »alles, was sich bewegt und bunt ist«, gibt er lachend zu. Er spricht mit sehr eingeschränktem Vokabular und bevorzugt kurze Wörter und Sätze. Wenn er etwas laut vorlesen muss und über ein Wort stolpert, das er nicht kennt, hält er inne und buchstabiert es langsam. »Meine Frau hat mir vor anderthalb Jahren ein iPad geschenkt, ich hatte bis dahin noch nicht mal einen Computer besessen. Ich finde es witzig, aber bei der Schreibung von manchen Wörtern liege ich so falsch, dass die Rechtschreibkontrolle keine Alternative anbieten kann«, erzählt er. »Ich weiß nicht, wie oft mir das Gerät sagt: ›kein Ersatz gefunden‹.«
    Als Boies von der High School abging, hatte er keine großen Ambitionen. Seine Noten waren »miserabel« gewesen. Seine Familie war inzwischen nach Südkalifornien gezogen, die Wirtschaft boomte. Er bekam einen Job auf dem Bau. »Wir waren an der frischen Luft, die anderen waren alle älter als ich, und ich habe mehr verdient, als ich mir jemals erträumt hätte«, erinnert sich Boies. »Es hat großen Spaß gemacht.« Danach arbeitete er eine Weile als Buchhalter einer Bank und spielte nebenher oft Bridge. »Es war ein gutes Leben, und ich hätte noch lange so weitermachen können. Aber nachdem unser erstes Kind auf die Welt gekommen war, machte sich meine Frau ernste Gedanken um meine Zukunft.« Sie brachte Broschüren von Colleges und Universitäten mit nach Hause. Er erinnerte sich daran, dass ihn als Kind alles fasziniert hatte, was mit Recht und Gesetz zu tun hatte. Also beschloss er, Jura zu studieren. Heute ist David Boies einer der bekanntesten Strafverteidiger der Vereinigten Staaten.
    Wenn Boies erzählt, wie er vom Bauarbeiter mit High-School-Abschluss zum Staranwalt aufstieg, kann man nur staunen. In der Juristerei geht ohne Lesen – von Fällen, Gutachten, Urteilen und so weiter – überhaupt nichts, doch für Boies ist Lesen eine Qual. Es scheint völlig verrückt, dass er Jura überhaupt in Betracht zog. Aber vergessen wir nicht: Wenn Sie dieses Buch lesen, dann sind Sie ein Leser, und deshalb mussten Sie sich nie mit all den Strategien, Techniken und Abkürzungen abgeben, mit deren Hilfe sich das Lesen vermeiden lässt.
    Boies schrieb sich an der University of Redlands ein, einer kleinen privaten Universität eine Stunde östlich von Los Angeles. Das war seine erste richtige Entscheidung. Redlands ist ein kleiner Teich, und Boies glänzte. Er war fleißig und gut organisiert, weil er wusste, dass er anders nicht durchkommen würde. Und dann hatte er Glück. Für seinen Bachelor-Abschluss musste Boies eine Reihe von Kernfächern belegen, die ein umfangreiches Lesepensum verlangten. Doch damals konnte man sich auch ohne ein abgeschlossenes Bachelor-Studium um einen Studienplatz in Jura bewerben. Also ließ Boies die Kernfächer einfach sausen. »Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem ich erfahren habe, dass man ohne Bachelor Jura studieren kann«, erzählt er. »Ich habe Luftsprünge gemacht.«
    Während des Jurastudiums wurde die Lektüreliste noch länger. Doch Boies entdeckte, dass es von den wichtigsten Fällen Zusammenfassungen gab, die beispielsweise ein Urteil des Obersten Gerichtshofs auf einer Seite darstellten. »Natürlich gibt es Leute, die jetzt sagen würden, dass man so nicht Jura studieren kann«, meint Boies. »Aber es hat seinen Zweck erfüllt.« Außerdem war er ein ausgezeichneter Zuhörer. »Ich habe mein ganzes Leben lang zugehört. Das musste ich können, weil das für mich der einzige Weg war, etwas zu lernen. Ich erinnere mich an das, was jemand sagt. Und ich erinnere mich auchdaran, wie jemand etwas sagt und welche Worte er verwendet.« Während die anderen Studierenden in der Vorlesung wie besessen mitschrieben oder alternativ kritzelten, vor sich hin träumten oder Löcher in die Luft starrten, hörte er genau zu und prägte sich den Inhalt ein. Sein Gedächtnis war inzwischen ein beeindruckendes Werkzeug geworden. Er hatte es trainiert, seit seine Mutter ihm Geschichten vorgelesen hatte und

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