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David und Goliath

David und Goliath

Titel: David und Goliath Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Malcolm Gladwell
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»Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass uns dies den Krieg kosten könnte«, hieß es in dem Bericht.
    Im Herbst 1940 begann der lange erwartete Luftangriff. Den Auftakt machten 57   aufeinander folgende Nächte mit verheerenden Bombenabwürfen. Über einen Zeitraum von insgesamt acht Monaten donnerten deutsche Bomber über den Himmel von London und warfen Zehntausende Sprengbomben und mehr als eine Million Brandbomben ab. Etwa 40   000   Menschen starben, weitere 46   000 wurden verwundet. Zehntausende Gebäude wurden beschädigt oder zerstört. Im Londoner East End wurden ganze Stadtteile dem Erdboden gleich gemacht. Es war der von den britischen Behörden so gefürchtete Großangriff, mit einem Unterschied: Die Londoner reagierten ganz anders als erwartet. 58
    Zu keinem Zeitpunkt brach Panik aus. Die psychiatrischen Kliniken am Stadtrand wurden in militärische Einrichtungen umgewandelt, da es keine Patienten gab. Mit Beginn der Angriffe wurden viele Frauen und Kinder evakuiert und aufs Land gebracht. Doch die Menschen, diein der Stadt bleiben mussten, blieben überwiegend freiwillig. Im Laufe des sogenannten »Blitz« wurden die deutschen Angriffe immer heftiger, doch die britischen Behörden stellten erstaunt fest, dass die Londoner nicht nur mit Mut, sondern sogar mit einer Art Gleichgültigkeit auf die dauernden Bombenabwürfe reagierten.« Ein englischer Psychiater schrieb kurz nach Kriegsende:
    » Im Oktober   1940 hatte ich die Gelegenheit, kurz nach einer Reihe von Angriffen auf den Südosten Londons durch die betroffenen Stadtteile zu fahren. Gut alle hundert Meter sah ich einen Bombenkrater oder die Ruinen eines Wohn- oder Geschäftshauses. Als plötzlich die Sirenen zu heulen begannen, blickte ich umher, um zu sehen, was passieren würde. Eine Nonne, die mit einem Kind die Straße entlangging, nahm dieses bei der Hand und beschleunigte ihren Schritt. Doch wir beide schienen die Einzigen zu sein, die den Fliegeralarm gehört hatten. Kleine Jungen spielten ungerührt weiter auf den Gehsteigen, Käufer setzten ihre Einkäufe fort, ein Polizist regelte den Verkehr mit gravitätischer Langeweile und Radfahrer trotzten dem Tod und den Verkehrsregeln. Soweit ich sehen konnte, blickte niemand zum Himmel. « 59
    Vermutlich fällt es Ihnen schwer, diese Schilderung zu glauben. Der »Blitz« war schließlich Krieg. Wenn irgendwo eine Bombe explodierte, flogen tödliche Splitter in alle Richtungen. Jede Nacht stand ein anderer Stadtteil in Flammen. Mehr als eine Million Menschen verloren ihr Zuhause. Tausende drängten sich Nacht für Nacht in den improvisierten Luftschutzräumen der U-Bahn-Stationen. Von draußen drang unablässig das Donnern der Flugzeuge, das Dröhnen der Explosionen, das Knattern der Flugabwehrkanonen, das Geheul der Krankenwagen, Feuerwehrautos und Sirenen herein. Nach einer Umfrage vom 12.   September   1940 hatte ein Drittel der Londoner in der Nacht zuvor kein Auge zugemacht, und ein weiteres Drittel hatte weniger als vier Stunden geschlafen. Die britischen Behörden hatten nicht zu Unrecht Angst vor einer Massenpanik.
    Die gängige Erklärung für die Reaktion der Londoner ist der legendäre Stoizismus der Briten, die stiff upper lip (verständlicherweise ist das die Erklärung, die den Briten selbst am besten gefällt). Bald wurde jedoch klar, dass nicht nur die Briten so reagierten. Auch in anderen Ländern erwiesen sich die Zivilisten angesichts der Luftangriffe als unerwartet robust. Die Londoner waren also keineswegs einmalig. Im Gegenteil, ihre Reaktion schien typisch menschlich. Nach dem Krieg kursierten verschiedene Theorien, die das Geheimnis des »London Blitz« erklären sollten. Die einflussreichste stammte von dem kanadischen Psychiater J.   T.   MacCurdy.
    MacCurdy erklärte, in einer Bombennacht gebe es drei Gruppen von Betroffenen. Die erste Gruppe sind die Toten. Für sie hat der Abwurf ganz offensichtlich die verheerendste Wirkung. Doch wie MacCurdy (vielleicht ein wenig kühl) konstatiert: »Die Moral der Gemeinschaft hängt von der Reaktion der Überlebenden ab, weshalb die Toten keine Rolle spielen – sie laufen schließlich nicht durch die Straßen und verbreiten Panik.« 60
    Die zweite Gruppe sind die Traumatisierten:
    » Sie spüren die Explosion, sehen die Zerstörung, erleben das Grauen des Blutbads, werden vielleicht selbst verwundet, doch sie überleben und sind zutiefst erschüttert. Diese Erschütterung hat eine Verstärkung der Angstreaktion in

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