Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
David und Goliath

David und Goliath

Titel: David und Goliath Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Malcolm Gladwell
Vom Netzwerk:
werfen. Wir würden uns nach Hause schleichen in dem Gefühl, dass der Optionshandel nichts für uns ist. Oder wir kämen am Montagmorgen an die Börse und würden uns zum Narren machen. Spätestens nach einer Woche oder einem Monat wären wir erst auf- und dann rausgeflogen. Die Taxifahrt war definitiv eine unverträgliche Aktion, und die meisten von uns wollen doch möglichst verträglich sein. Und Cohn? Der verkauft Alutüren. Seine Mutter meinte, er könne von Glück reden, wenn er Lastwagen fahren dürfte. Er war mehrmals von der Schule geflogen, als »doof« abgetan worden und brauchte selbst als Erwachsener sechs Stunden, um sich durch 22   Seiten zu quälen, weil er den Text Wort für Wort durchackern musste, um sicher zu sein, das er alles verstand. Er hatte nichts zu verlieren.
    »Als Kind hatte ich gelernt, mit dem Scheitern zu leben«, erzählt er. »Von anderen Legasthenikern, die ich kenne, weiß ich eines: Wenn wirvon der Universität abgehen, haben wir eine besondere Fähigkeit entwickelt, mit dem Scheitern fertig zu werden. In den meisten Situationen sehen wir deswegen eher das Licht, nicht den Schatten. Es bringt uns nicht aus der Fassung. Ich habe oft darüber nachgedacht, denn es hat mich zu dem gemacht, was ich bin. Ohne die Legathenie wäre ich heute nicht da, wo ich bin. Dieses Risiko wäre ich nie eingegangen.«
    Im besten Fall zwingt die Legasthenie also, Fähigkeiten zu entwickeln, die andernfalls nie in Erscheinung getreten wären. Sie bringt Menschen dazu, Dinge zu tun, die man unter anderen Umständen nicht einmal in Erwägung gezogen hätte, weshalb man wie Kamprad eine unangenehme Reise nach Polen auf sich nimmt oder in ein Taxi springt, um jemandem eine Rolle vorzuspielen. Übrigens: Kamprad ist ebenfalls Legastheniker. Und Gary Cohn? Der wurde als Händler ungewöhnlich erfolgreich, und der Umgang mit dem Scheitern erwies sich als ausgesprochen gute Vorbereitung für eine Laufbahn in der Wirtschaft. Heute ist Cohn Präsident der Investmentabteilung von Goldman Sachs.

KAPITEL 5
Emil »Jay« Freireich

    Ich weiß nicht, wie Jay das ausgehalten hat.
    Emil »Jay« Freireich
1
    Jay Freireich war noch ein kleiner Junge, als plötzlich sein Vater starb. Die Freireichs waren aus Ungarn in die Vereinigten Staaten eingewandert und hatten in Chicago ein Restaurant eröffnet. Dann kam der Börsencrash des Jahres 1929, und sie verloren alles. »Sie haben ihn im Bad gefunden«, erzählt Freireich. »Ich nehme an, dass es Selbstmord war, denn er war allein. Er war nach Chicago gekommen, weil ein Bruder von ihm da gelebt hat. Kurz nach dem Börsencrash hat der Bruder die Stadt verlassen. Mein Vater hatte eine Frau, zwei kleine Kinder, kein Geld und das Restaurant war auch futsch. Er muss ziemlich verzweifelt gewesen sein.«
    Freireichs Mutter nahm eine Stelle in einer Näherei an, wo sie im Akkord Krempen an Hüte nähte. Pro Hut bekam sie 2   Cent. Sie sprach kaum Englisch. »Sie hat 18   Stunden am Tag gearbeitet, und zwar sieben Tage die Woche, um die Miete für unsere Wohnung bezahlen zu können«, erzählt Freireich weiter. »Wir haben sie nie gesehen. Wir hatten eine kleine Wohnung auf der Westseite des Humboldt-Parks, gleich neben dem jüdischen Viertel. Weil sie ihren zweijährigen Jungen und seine fünfjährige Schwester nicht allein zu Hause lassen konnte, hat sie eine irische Einwanderin angestellt, die für Kost und Logis gearbeitet hat. Diese irische Frau hat mich großgezogen. Wir haben sie geliebt, für mich war sie meine Mutter. Als ich neun war, hat meine Mutter einen Ungarn kennengelernt, einen Witwer mit einem Sohn, und siehat ihn geheiratet. Es war eine Zweckehe. Er konnte sich nicht um seinen Sohn kümmern, und sie war allein. Der Mann war ein verbitterter, verschrumpelter Kerl. Also haben die beiden geheiratet, meine Mutter hat in der Näherei gekündigt und ist wieder auf der Bildfläche erschienen. Natürlich konnten sie sich das Kindermädchen nicht mehr leisten. Also haben sie sie rausgeworfen. Sie haben meine Mutter rausgeworfen. Das habe ich meiner Mutter nie verziehen.«
    Die Familie zog von einer Wohnung in die nächste. Proteine in Form von Fleisch gab es einmal pro Woche. Freireich erinnert sich, wie er auf der Suche nach einer Flasche Milch für 4   Cent von einem Geschäft zum nächsten lief, denn den üblichen Preis von 5   Cent pro Flasche konnte sich die Familie nicht leisten. Er lebte auf der Straße. Er stahl. Mit seiner Schwester verstand er sich nicht,

Weitere Kostenlose Bücher