David und Goliath
David Boies bewirkte dieselbe neurologische Störung jedoch das genaue Gegenteil. Die Legasthenie hätte Cohn beinahe zerstört und hinterließ eine Spur des Leids und der Angst. Doch er war intelligent, wurde von seiner Familie unterstützt, und mit reichlich Glück und anderen Ressourcen gelang es ihm, die schlimmsten Auswirkungen abzuwenden und gestärkt aus der Erfahrung hervorzugehen. Wie die britische Militärführung machen wir nur zu oft den Fehler, anzunehmen, dass eine schreckliche Erfahrung nur eine einzige Reaktion zulässt. Das stimmt nicht. Es gibt zwei Möglichkeiten. Und das bringt uns zurück zu Jay Freireich und der Kindheit, an die er sich nicht erinnern wollte.
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Als Jay Freireich neun Jahre alt war, bekam er eine Mandelentzündung. Er war sehr krank. Der Hausarzt, ein gewisser Dr. Rosenblum, kam in die Wohnung, um die entzündeten Mandeln zu entfernen. »Ich habe damals nie einen erwachsenen Mann zu Gesicht bekommen«, erinnert sich Freireich. »Ich habe nur Frauen gekannt. Wenn ich mal einen Mann gesehen habe, dann war der schmutzig und trug Arbeitsklamotten. Aber Rosenblum hatte einen Anzug mit Krawatte an, er war würdevoll und freundlich. Deswegen habe ich seit damals davon geträumt, ein berühmter Arzt zu werden. Eine andere Laufbahn kam für mich nicht mehr infrage.«
In der High School nahm ihn sein Physiklehrer unter die Fittiche und riet ihm zu studieren. »Ich habe gefragt: ›Was brauche ich dazu?‹ Und er hat gesagt: ›Wenn du 25 Dollar auftreiben kannst, dann schaffst du es wahrscheinlich.‹ Das war 1942. Damals ist es uns wirtschaftlich etwas besser gegangen, aber keineswegs gut. 25 Dollar waren eine Menge Geld. Ich glaube, meine Mutter hatte noch nie 25 Dollar auf einemHaufen gesehen. Sie hat gesagt: ›Mal sehen, was ich machen kann.‹ Ein paar Tage später ist sie wiedergekommen. Sie hatte eine Ungarin aufgetrieben, deren Mann gerade gestorben war und der ihr ein bisschen Geld hinterlassen hatte. Ob Sie es glauben oder nicht, meine Mutter hat mir die 25 Dollar gegeben. Sie hat das Geld nicht für sich behalten, sondern sie hat es mir gegeben. Damals war ich 16 und voller Optimismus.«
Freireich setzte sich in den Zug und fuhr von Chicago nach Champaign Urbana zum Campus der University of Illinois. Dort mietete er sich ein Zimmer in einer Pension. Um die Studiengebühren bezahlen zu können, arbeitete er als Kellner in einem Verbindungshaus, was den zusätzlichen Vorteil hatte, dass er dort die Reste essen konnte. Er war ein guter Student und erhielt einen Studienplatz in Medizin. Danach absolvierte er sein Praktikum am Cook County Hospital, dem größten staatlichen Krankenhaus von Chicago.
Medizin war damals ein vornehmer Beruf. Ärzte genossen großes Ansehen und kamen in der Regel aus der oberen Mittelschicht. Freireich fiel aus dem Rahmen. Einmal hatte er ein Rendezvous mit einer Frau, die aus deutlich besseren Verhältnissen stammte als er. Sie war elegant und gebildet und er war ein Schläger aus Humboldt Park, der aussah und sprach wie der Leibwächter eines Gangsters der dreißiger Jahre. »Wir sind ins Konzert gegangen. Es war das erste Mal, dass ich klassische Musik gehört habe«, erinnert er sich. »Ich hatte noch nie Ballett gesehen. Ich hatte noch nie ein Theater besucht. Nach dem Krieg hatte meine Mutter einen kleinen Fernseher, das war alles. Keine Literatur, keine Kunst, keine Musik, kein Tanz, gar nichts. Es ging nur darum, etwas zu essen auf den Tisch zu bekommen. Und nicht verprügelt oder umgebracht zu werden. Es war ziemlich hart.« 64
Seine Ausbildung zum Facharzt machte Freireich in der Hämatologie in Boston. Von da wurde er in die Armee einberufen und leistete seinen Wehrdienst am Nationalen Krebsforschungszentrum in der Nähe von Washington, DC. Er galt als brillanter und leidenschaftlicher Arzt, der morgens als erster ins Krankenhaus kam und abends als letzter nach Hause ging. Doch er war nie mehr als einen Schritt von seinenstürmischen Anfängen entfernt. Er war aufbrausend und nicht gerade für seine Geduld und Sanftmut bekannt. Mit seinen knapp 1,95 Metern und seiner breiten Brust macht er noch heute eine imponierende Figur, auch wenn er inzwischen über achtzig Jahre alt ist. Sein Kopf ist selbst für einen Körper dieser Größe überdimensioniert, weshalb er noch größer wirkt. Er redet gern, ununterbrochen, laut und mit den harten Vokalen seiner Heimatstadt Chicago. Wenn er seinen Aussagen besondere Betonung verleihen
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