David und Goliath
Cleveland einen Job als Verkäufer von Alutüren. Nach einem mittelmäßigen Studium hatte er seinen Abschluss von der American University in der Tasche. Einen Tag vor Thanksgiving, er befand sich gerade zu Besuch in der Verkaufsstelle des Unternehmens in Long Island, überredete er seinen Boss, ihm einen Tag freizugeben, damit er nach New York fahren und sich die Wall Street ansehen konnte. Einige Jahre zuvor hatte er ein Praktikum bei einem Börsenhändler in Cleveland gemacht, und das hatte sein Interesse am Aktienhandel geweckt. Er fuhr hinunter zur Warenbörse, die sich damals im World Trade Center befand.
»Ich wollte einen Job suchen«, erzählt er. »Aber ich hatte keine Ahnung, wo ich hin sollte. Es war ja alles abgesperrt. Erst bin ich rauf auf den Balkon, habe von oben auf die Jungs geschaut und mir gedacht,wie kann ich nur mit einem von denen reden? Also bin ich runter zur Sicherheitskontrolle am Einlass, als ob mich da jemand reinlassen würde. Natürlich nicht. Aber buchstäblich als der Handel schließt, kommt dieser elegante Typ vom Parkett angerannt und ruft seinem Mitarbeiter zu: ›Ich muss los, ich muss zum Flughafen, ich bin schon spät dran, ich ruf dich an, wenn ich da bin!‹ Ich springe zu ihm in den Aufzug und sage zu ihm: ›Sie fahren zum Flughafen?‹ Und er sagt: ›Ja.‹ Und ich sage: ›Können wir uns ein Taxi teilen?‹ Und er: ›Klar.‹ Und ich denke, cool. Es ist Freitag, Feierabendverkehr, wir sitzen eine Stunde zusammen im Taxi und ich kann versuchen, einen Job zu bekommen.«
Der Fremde, mit dem Cohn ins Taxi stieg, war zufällig ein großes Tier einer wichtigen Maklerfirma an der Wall Street. Und just in dieser Woche war diese Firma in den Optionshandel eingestiegen.
»Der Typ war der neue Chef des Optionshandels, aber er hatte keine Ahnung, was eine Option war«, erzählt Cohn weiter. Er lacht, wenn er sich an seine Dreistigkeit zurückerinnert. »Ich habe ihm die ganze Fahrt über was vorgelogen. Er hat mich gefragt: ›Wissen Sie, was eine Option ist?‹ Und ich habe zu ihm gesagt: ›Klar weiß ich das. Ich weiß alles. Ich kann alles für Sie tun!‹ Als wir am Flughafen ausgestiegen sind, hatte ich seine Telefonnummer. Er hat zu mir gesagt: ›Rufen Sie mich am Montag an!‹ Also habe ich ihn am Montag angerufen, bin Dienstag oder Mittwoch wieder nach New York geflogen, habe ein Vorstellungsgespräch geführt, und am nächsten Montag habe ich angefangen. In der kurzen Zeit habe ich McMillans Buch zum Optionshandel gelesen. Das ist die Bibel.«
Das war natürlich nicht so einfach, wie es klingt, denn an einem guten Tag brauchte Cohn sechs Stunden, um 22 Seiten zu lesen. 56 Er vergrub sich in dem Buch, ackerte es Wort für Wort durch und wiederholte Sätze, bis er sie verstanden hatte. An seinem ersten Arbeitstag war er vorbereitet. »Ich habe mich buchstäblich hinter ihn gestellt und zu ihm gesagt: ›Kauf das, verkauf jenes, kauf das‹«, erzählt er. »Ich habe ihm natürlich nicht auf die Nase gebunden, was ich da mache. Vielleicht hat er es ja mitbekommen, aber das war ihm egal. Ich habe massenhaft Geld für ihn verdient.«
Cohn schämt sich nicht, wenn er an seine Anfänge an der Wall Street zurückdenkt. Trotzdem wäre es falsch, zu glauben, dass er stolz darauf ist. Es ist nicht sonderlich schmeichelhaft, dass er sich in seinen ersten Job geblufft hat, und das weiß er auch. Er ist einfach nur ehrlich, als er es erzählt, als wolle er sagen: Das bin ich.
Als er damals im Taxi saß, musste Cohn eine Rolle spielen und sich als erfahrener Optionshändler ausgeben. Die meisten von uns hätten sich in dieser Situation verraten. Wir sind es nicht gewöhnt zu schauspielern. Aber Cohn hatte seit der Grundschule Rollen gespielt. Sie kennen das vielleicht, da ist man sechs, sieben oder acht Jahre alt, und alle halten einen für doof, also macht man komische Sachen, um ein bisschen Anerkennung zu bekommen. Immer noch besser, den Klassenkasper zu spielen, als der Depp zu sein. Und für jemanden, der sein Leben lang geschauspielert hat, ist es nicht sonderlich schwer, eine Stunde lang in einem Taxi zum Flughafen zu bluffen.
Aber die meisten von uns wären erst gar nicht in das Taxi gestiegen, weil wir Angst vor den möglichen sozialen Folgen gehabt hätten. Der Börsenmakler könnte uns doch sofort durchschauen und überall herumerzählen, dass da draußen jemand herumläuft, der sich als Optionshändler ausgibt. Das wäre das Ende. Er würde uns aus dem Taxi
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