David und Goliath
sie war eher eine Zuchtmeisterin als eine Freundin. Seinen Stiefvater konnte er nicht ausstehen, doch die Ehe hielt ohnehin nicht lange. Auch seine Mutter konnte er nicht leiden. »Das bisschen Hirn, das sie hatte, hat sie in der Näherei gelassen«, sagt er. »Sie war eine zornige Frau. Und dann musste sie auch noch diesen hässlichen Typen heiraten, der diesen Kerl mitgebracht hat, meinen Stiefbruder, der die Hälfte von allem bekam, was mir zustand, und dann setzten sie auch noch meine Mutter vor die Tür.« Er verstummt.
Freireich sitzt an seinem Schreibtisch. Er trägt einen weißen Arztkittel. Die Ereignisse, die er schildert, liegen lange zurück, und trotzdem sind sie sehr präsent. »Ich kann mich nicht daran erinnern, dass sie mich jemals in den Arm genommen oder geküsst hätte«, erzählt er. »Meinen Vater hat sie nie erwähnt. Ich habe keine Ahnung, ob er sie gut oder schlecht behandelt hat. Ich habe nie ein Wort gehört. Ob ich mir jemals Gedanken mache, wie er war? Dauernd. Ich habe ein Foto von ihm.« Freireich dreht seinen Stuhl um und öffnet auf dem Bildschirm einen Ordner mit Bildern. Auf dem Bildschirm erscheint das grobkörnige Foto eines Mannes, der Freireich sehr ähnlich sieht. »Das ist das einzige Bild von ihm, das meine Mutter hatte«, sagt er. Die Ränder des Fotos sind ausgefranst – offenbar war es aus einem größeren Familienfoto ausgeschnitten worden.
Ich frage ihn nach dem irischen Kindermädchen, das ihn aufgezogen hatte. Wie hieß sie? Er hält inne – eine für ihn seltene Pause. »Ich erinnere mich nicht«, gesteht er. »Es fällt mir bestimmt gleich wieder ein.« Er denkt einen Moment lang nach. »Meine Schwester würde sich bestimmt daran erinnern, und meine Mutter auch. Aber die leben beide nicht mehr. Ich habe keine lebenden Verwandten mehr – nur zwei Cousinen.« Er schweigt wieder eine Weile. »Ich glaube, sie hieß Mary. Ja, ich glaube ... Aber meine Mutter hieß Mary. Vielleicht verwechsle ich da was ...«
Freireich ist 84 Jahre alt, doch es handelt sich nicht um eine normale Gedächtnislücke. Jay Freireich hat keine Gedächtnislücken. Wir führen unser erstes Gespräch im Frühjahr, treffen uns ein halbes Jahr später wieder und einige Monate später noch einmal. Jedesmal ruft er Namen, Daten und Fakten mit der Präzision eines Computers ab, und wenn er zum zweiten Mal auf ein bestimmtes Thema zu sprechen kommt, unterbricht er sich und sagt: »Aber das habe ich Ihnen ja schon alles erzählt.« Wenn er sich nicht an den Namen der Frau erinnern kann, die ihn großgezogen hat, dann deshalb, weil diese Zeit so schmerzhaft für ihn war, dass er sie tief in seinem Gedächtnis vergraben hat.
2
In den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg war die britische Regierung zunehmend besorgt. Wenn es zum Krieg kommen und die deutsche Luftwaffe groß angelegte Luftangriffe auf London fliegen sollte, dann hätte ihr die britische Militärführung nur wenig entgegenzusetzen. Basil Liddell Hart, einer der führenden Militärexperten der Zeit, ging davon aus, dass in den ersten Wochen einer deutschen Großoffensive auf London eine Viertelmillion Zivilisten verwundet oder getötet werden würden. Winston Churchill beschrieb die Hauptstadt des britischen Weltreichs als »das größte Ziel der Welt, eine fette, wertvolleKuh, die gemästet wurde und nun die Raubtiere anlockt«. 57 Seiner Ansicht nach war die Stadt einem Angriff schutzlos ausgeliefert, und er ging davon aus, dass zwischen drei und vier Millionen Londoner aufs Land fliehen würden. Im Jahr 1937, zwei Jahre vor Kriegsausbruch, erstellte die britische Militärführung den bis dahin pessimistischsten Bericht: Ein kontinuierlicher Luftangriff durch die Deutschen werde bis zu 600 000 Todesopfer und 1,2 Millionen Verwundete fordern und zu Massenpanik auf den Straßen führen. Die Menschen würden sich weigern, zur Arbeit zu gehen. Die Industrieproduktion bräche zusammen. Die Armee könnte sich einem deutschen Angriff nicht entgegenstellen, da sie vor allem damit beschäftigt wäre, unter den panischen Bürgern die Ordnung zu wahren. Für kurze Zeit erwogen die Planer den Bau eines riesigen Netzes von unterirdischen Bunkern in ganz London, doch sie verwarfen den Plan bald wieder, weil sie fürchteten, dass die Schutzsuchenden die Bunker nicht mehr verlassen würden. Stattdessen richteten sie in den Außenbezirken eine Reihe psychiatrischer Kliniken ein, um die erwartete Flut von traumatisierten Opfern zu behandeln.
Weitere Kostenlose Bücher