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David und Goliath

David und Goliath

Titel: David und Goliath Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Malcolm Gladwell
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möchte, wird er gern laut und schlägt mit der Faust auf den Tisch – bei einer dieser Gelegenheiten zertrümmerte er die Glasplatte eines Konferenztischs. (Später hieß es, danach habe Freireich zum ersten Mal den Mund gehalten.)
    Ein Kollege erinnert sich an seinen unvergesslichen ersten Eindruck von Freireich: »ein Riese, der am anderen Ende des Raums in ein Telefon brüllte«. Ein anderer beschreibt ihn als »völlig unbezähmbar. Er hat nie ein Blatt vor den Mund genommen.« Insgesamt wurde er sieben Mal entlassen, das erste Mal noch während seiner Zeit als Assistenzarzt im Presbyterian Hospital, wo er sich mit der Oberschwester angelegt hatte. Ein ehemaliger Kollege erinnert sich an einen späteren Vorfall, als Freireich den Fehler eines Assistenzarztes entdeckte. Es war eine triviale Angelegenheit, der Mann hatte lediglich einen Laborbefund übersehen. »Der Patient ist gestorben. Aber das hatte nichts damit zu tun, dass der Arzt den Befund übersehen hatte. Jay hat ihn noch im Krankenzimmer angebrüllt, vor fünf oder sechs Ärzten und Schwestern. Er hat ihn als Mörder beschimpft, und der Mann ist in Tränen ausgebrochen.« Wenn seine Freunde über Freireich sprechen, kommt früher oder später ein Aber. Ich mag ihn, aber einmal hätten wir uns fast geprügelt. Ich habe ihn zum Essen zu mir nach Hause eingeladen, aber er hat meine Frau beleidigt. »Die Freireichs zählen bis heute zu meinen besten Freunden«, sagt Evan Hersh, ein Onkologe, mit dem Freireich zu Beginn seiner Laufbahn zusammengearbeitet hatte. »Wir laden ihn zu allen unseren Hochzeiten und Bar Mizwas ein. Ich liebe ihn, als wäre er mein Vater. Aber damals war er ein Tiger. Wir haben uns furchtbar gestritten. Manchmal haben wir wochenlang kein Wort miteinander gesprochen.«
    Aber ist es denn so verwunderlich, dass Freireich so ist, wie er ist? Wenn die meisten von uns ihre Kollegen nicht anschreien und als Mörder beschimpfen, dann liegt das daran, dass wir uns in ihre Lage versetzen können. Wir können nachempfinden, was jemand fühlt. Das können wir deshalb, weil wir als Kinder in unserem Leid unterstützt, getröstet und verstanden wurden. Dank diesem Mitgefühl, das andere mit uns hatten, lernen wir später, Mitgefühl mit anderen zu haben: Das Vorbild ist die Voraussetzung für unsere eigene Empathiefähigkeit. Doch in Freireichs Kindheit endete jede menschliche Beziehung in Tod und Verlassenwerden. Eine derart finstere Kindheit lässt nur Schmerz und Zorn zurück.
    Einmal unterbricht er seine Erinnerungen an seine Laufbahn als Arzt, um sich darüber aufzuregen, dass unheilbare Krebspatienten in eine Sterbeklinik eingewiesen werden. »Eine Menge Ärzte wollen in Sterbekliniken arbeiten. Was soll das? Wie kann man einen Menschen so behandeln?« Wenn Freireich in Fahrt kommt, wird er laut und schiebt den Unterkiefer vor. »Die sagen, Sie haben Krebs und Sie müssen sterben. Sie haben Schmerzen und das ist alles ganz furchtbar. Ich schicke Sie in eine Klinik, in der Sie einen angenehmen Tod sterben können. Das würde ich nie zu irgendjemandem sagen. Ich würde sagen: Sie leiden, Sie haben Schmerzen, ich werde Ihr Leid lindern. Vielleicht können wir etwas für Sie tun. Ich sehe jeden Tag Wunder. Wir können uns keinen Pessimismus leisten, denn wir sind die Einzigen, die den Patienten Mut machen können. Am Dienstagmorgen mache ich meine Lehrvisiten, und manchmal sagen die Praktikanten: ›Der Mann ist 80. Seine Situation ist aussichtslos.‹ Natürlich nicht! Die Situation ist schwieriger, aber es ist doch nicht aussichtslos! In solchen Situationen müssen Sie eben etwas finden. Sie müssen herausfinden, wie Sie ihm helfen können, denn der Mensch braucht Hoffnung, um zu überleben.« Er brüllt fast. »Ich war nie deprimiert. Ich habe mich nie zu den Eltern gesetzt und geweint, weil ihr Kind stirbt. Das würde ich als Arzt nie tun. Wenn meine Kinder sterben, würde ich wahrscheinlich durchdrehen. Aber als Arzt legt man einen Eid ab, dass man den Leuten hilft. Das ist unser Job.«
    So ging das noch einige Minuten weiter, und Freireichs Persönlichkeit wurde nahezu erdrückend. Natürlich wünscht sich jeder von uns einen Arzt, der nicht aufgibt und die Hoffnung nicht verliert. Aber wir wünschen uns auch einen Arzt, der sich in unsere Lage versetzen kann und versteht, wie wir uns fühlen. Wir wünschen uns eine würdevolle Behandlung, doch eine würdevolle Behandlung setzt Empathie voraus. War Freireich dazu in der Lage? Ich war nie

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