Davids letzter Film
keine Stadt der Gespenster, auch wenn es David und ihm manchmal so vorgekommen sein mochte.
Der Wagen scherte aus der Autobahn aus, rollte die Ausfahrt hinunter und schlängelte sich am Kongresszentrum vorbei zur Kantstraße.
Der Himmel hatte sich zugezogen, und es herrschte jenes farblose, weißliche Licht, das so typisch ist für die kurzen Berliner
Wintertage.
Träge glitt Florians Blick über die Leuchtschriften der Läden, die an seinem Fenster vorbeihuschten. Viele Geschäfteerkannte er wieder, nicht alles hatte sich offenbar seit damals geändert. Nur den einen oder anderen Coffee-to-go-Shop hatte
es früher noch nicht gegeben.
Davids Film hatte ihn in eine gleichsam schwebende Stimmung versetzt. Fast fühlte er sich, als hätte »Das Auge« den Schock
von »Audience« noch verstärkt. Er hielt die Augen halb geschlossen und dämmerte vor sich hin. Was wollte er hier? Was wollte
er in Berlin? War es nicht naiv zu glauben, mit einem Artikel allein könnte er aus seiner beruflichen Sackgasse wieder herausfinden?
An der Ecke Wilmersdorfer Straße bat er den Fahrer zu halten. Sicher, es wäre noch ein Stück, aber er würde laufen. Er zahlte,
stieg aus und mischte sich unter die nachmittäglichen Passanten, die von Geschäft zu Geschäft eilten und ihre Einkäufe erledigten.
Florian lief langsamer als sie. Er hatte es nicht eilig. Im Gegenteil. Als könnte er seine flüchtigen, wild durcheinandertaumelnden
Gedanken so zügeln, schritt er betont bedächtig die Straße hinunter.
Was ihn wirklich bedrückte, war nicht die Sackgasse, in der er steckte. Es war etwas anderes. Immer wieder hatte er sich gesagt,
dass er – wenn in Madrid alle Stricke reißen würden – noch nach Berlin zurückkehren konnte, wo David sein würde. Dass sie
sich seit Jahren nicht gesehen hatten, dass sie nicht telefoniert und keine Mails geschrieben hatten, hatte er dabei erfolgreich
ausgeblendet. Jetzt aber musste er den Tatsachen ins Auge sehen. David war verschwunden. Vielleicht war er tot, wer konnte
schon wissen, in was er hineingeraten war. Aber nicht nur das. Flos langjährige Gewissheit, David sei sein bester Freund,
eine Gewissheit, an der er trotz aller Irritationenimmer festgehalten hatte, diese Gewissheit war in sich zusammengestürzt. Er musste sich eingestehen, dass sie schon lange
nur noch eine Illusion gewesen war. Was wusste er denn noch von David? Hatte er damals, ’88, gewusst, was David für einen
Film machte? Nein! Und da hatten sie noch zusammengewohnt!
Er blieb stehen. Vor der Auslage eines Buchladens, damit es nicht so sehr auffiel. Und mit einem Mal überkam ihn tonnenschwer
das Bewusstsein seiner Einsamkeit. Nie zuvor hatte er so klar gesehen, wie allein er in den letzten Jahren gewesen war. Er
starrte auf die Auslage des Buchladens. Für einen Augenblick schien es ihm, als wäre sein Kopf völlig blank.
Dann aber riss er sich zusammen. David kannte vielleicht viele Leute. Aber kein anderer war so vertraut mit ihm wie er, Flo.
Das konnte ihm niemand ausreden. Deshalb stand auch fest, was er zu tun hatte. Er musste herausbekommen, was mit David geschehen
war. David war sein Freund, komme, was wolle. Er war verpflichtet, sich um ihn zu kümmern. Gerade jetzt! Was nützten David
seine zahlreichen Bekannten, wenn sie ihn im entscheidenden Moment im Stich ließen? Das würde er, Flo, nicht tun. Er würde
zeigen, dass ihre Freundschaft etwas bedeutete!
Und damit setzte er sich wieder in Bewegung. Die scheinbar unaufhaltsame Traurigkeit, die ihn vor dem Buchladen übermannt
hatte, schüttelte er ab wie ein Hund Regenwasser. Er wollte sich nicht unterkriegen lassen! Nicht jetzt! Nicht hier! Denn
in einem verborgenen Winkel seiner Seele ahnte er, dass er sich nicht mehr erholen würde, wenn er der Wahrheit, von der er
eben einen Zipfel erblickt hatte, zu lange ins Auge blickte.
11
Rührei, Speck und Brötchen, Obstsalat und Croissants – am Buffet des Savoy gab es alles, was er für einen reichhaltigen Start
in den Tag brauchte. Florian hatte das Gefühl, seit seiner Abfahrt aus Spanien nicht mehr richtig gegessen zu haben. Hungrig
lud er sich seinen Teller voll, steuerte einen der Tische an und nahm Platz. Tageszeitung und Stadtmagazin, die er auf einem
Servierwagen am Eingang des Frühstücksraums gefunden hatte, legte er neben sich.
Als er am Abend zuvor das Hotel betreten hatte, hatte ihm der Rezeptionist mitgeteilt, dass sich ein gewisser Herr
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