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Davids letzter Film

Davids letzter Film

Titel: Davids letzter Film Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Winner
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uns durchließen.«
    Flo grinste. »Man hatte automatisch ein schlechtes Gewissen. Berlin war komplett abgeriegelt, das kann man sich heute gar
     nicht mehr vorstellen. Auf dieser merkwürdigen Insel herrschte eine Endzeitstimmung, die keiner der späteren Milleniums-Apokalyptiker
     je wieder so hinbekommen hat. David war begeistert.«
    Er warf Thea einen Blick zu und bemerkte, dass sie ihn aufmerksam ansah. »Wir waren im Winter hergezogen«,fuhr er fort, »und hatten nur eine Ofenheizung. Nachts fiel das Thermometer auf minus vierundzwanzig Grad, ich erinnere mich
     noch genau, das war Rekord. Heute kommt es mir so vor, als wäre es immer dunkel gewesen. Das muss daran liegen, dass wir erst
     mittags aufstanden und im Morgengrauen zu Bett gingen. Praktisch haben wir nachts gelebt und tagsüber geschlafen. Aber das
     war ganz normal.«
    Er steckte die Hände in die Hosentaschen. »Na ja, vielleicht nur in Kreuzberg. Die Leute gingen ja teilweise erst nachts um
     zwei aus dem Haus. Den milchigen Berliner Vormittag schenkten sie sich einfach mitten in der Woche.«
    Sein Blick wanderte wieder zu dem Foto. »Eine verrückte Zeit. Kein Mensch hält so was lange durch. Immer wieder kam es vor,
     dass jemand psychisch einknickte. David hingegen blühte auf. Er konnte tun und lassen, was er wollte, niemand regte sich darüber
     auf. Nur die Uni hat ihn genervt. Er wollte Filme machen, aber das ging an der Uni nicht. Also fing er an zu arbeiten. Bei
     den Heinzelmännchen, der Arbeitsvermittlung für Studenten, da hat er sich die Jobs besorgt. Aufm Bau. Als Umzugshelfer. Treppen
     putzen. Alles.« Flo unterbrach sich. »Aber das hat er Ihnen sicherlich schon x-mal erzählt.«
    Thea lächelte. »Nein, nein, erzählen Sie weiter. Ich höre gern die alten Geschichten. David hatte nie viel Zeit, um in Erinnerungen
     zu schwelgen. Was gestern war, interessierte ihn nicht. Für ihn gibt es nur heute und morgen.«
    Florian zeigte auf das Foto. »Mit dem Geld von den Jobs hat er sich eine Beaulieu Super8 gekauft, die beste Schmalfilmkamera,die es damals gab. Und Schwarzweißfilme. Ich weiß noch, die musste man direkt bei Kodak in der Berliner Zweigstelle holen,
     die gab’s in keinem normalen Geschäft. Zu der Zeit drehten ja nur noch ein paar Familienväter ihre Babys auf Super8, aber
     in Farbe. Die meisten stiegen sowieso gerade auf Video um. Das kam für David aber nicht in Frage, es musste Film sein. Am
     liebsten sechzehn Millimeter, nur war das zu teuer. Also hat er die Beaulieu gekauft. Und dann hat er losgelegt. Den Film
     hat er für seine Bewerbung an der Akademie gemacht.«
    Er sah zu Thea. »Haben Sie ›Das Auge‹ mal gesehen?«
    »›Das Auge‹? Ja. Ja, das habe ich   …« Ein Schatten huschte über ihr Gesicht.
    Florian runzelte die Stirn. »Und?«
    »Ich weiß nicht, es war merkwürdig.« Sie schwieg.
    Flo ging zum Sofa und setzte sich neben sie. »Wieso?«
    »Der Film hat mich irritiert irgendwie. Erst hatte ich mich sehr gefreut, als David vorschlug, dass wir ihn uns gemeinsam
     ansahen. Wir waren damals ganz frisch verliebt, und ich war sicher, was auch immer für ein Film es sein würde, ich würde ihn
     lieben   …«
    »Und?«
    »Aber dann legte sich dieser Film wie ein Krake auf mich, ich weiß gar nicht, wie ich es anders beschreiben soll. Er zog mich
     förmlich in sich hinein. Ich hab mich dagegen gewehrt, aber ich wollte David auch nicht enttäuschen. Also sah ich mir den
     Film bis zum Ende an, obwohl ich deutlich spürte, dass es nicht richtig war, sich das anzuschauen, was dort vorne über die
     Leinwand flimmerte. Als es vorbei war, fühlte ich mich   … wie   … beschmutzt. Davidwollte mich umarmen, wollte wissen, ob es mir gefallen hatte   –«, sie brach ab.
    Florian wartete darauf, dass sie weitersprach.
    »Aber«, fuhr sie fort, »wie soll ich sagen   … es war   … mir graute vor ihm. Ja, so muss man das sagen.« Sie sah Florian verunsichert an. »Später legte sich das wieder, aber in
     dem Augenblick   …«
    Florian nickte schweigend.
    Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Haben Sie den Film nie gesehen?«
    Er schüttelte den Kopf. »Nein. Am Anfang dachte ich, David und ich würden ihn zusammen machen. Da war noch gar nicht die Rede
     davon, dass der Film für die Bewerbung gedacht war. Erst im Lauf der Vorbereitungen kam David diese Idee, und er nahm die
     Sache mehr und mehr allein in die Hand. Damals war ich darüber furchtbar enttäuscht. Mir kam es so

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