Davids letzter Film
sich alle Zeit zu nehmen, die es ihn kosten würde, Flo zu erklären, worum es ihm ging. »Pass auf. Mit meinen letzten
Filmen habe ich zu erreichen versucht, dass die Zuschauer etwas kapieren. Und zwar, dass sie auf eine Scheinmoral abgerichtet
worden sind.«
»Scheinmoral.«
»Genau.«
»Wobei es also eine Scheinmoral ist, zu glauben, dass alle Menschen gleich sind?« Flos Stimme wurde schärfer.
»Ja. Aber«, beeilte sich David hinzuzufügen, »hör mir erst mal zu, bevor du jetzt gleich wieder ausrastest. Die Grundidee
ist, dass wir begreifen sollen, wie sehr unser spontanes Urteil in Extremfällen von der herrschenden Moral abweichen kann.
Denk zum Beispiel mal an eine Situation im Krankenhaus. Stell dir vor, es gibt nur ein Organ, jedoch zwei Menschen, die das
Organ brauchen, um zu überleben. Wer soll das Organ nun bekommen? Wie entscheidet man da?«
Flo knallte die Flasche auf den Tisch. »Was weiß ich!«
David breitete die Arme aus. »Soll man durch Los entscheiden, dem Zufall das überlassen? Ich finde nicht! Viele sagen, dass
derjenige das Organ bekommen sollte, der uns allen mehr hilft. Wenn man beispielsweise zwischen einem alten Säufer und einer
jungen Chirurgin entscheiden muss, soll es die junge Chirurgin bekommen.«
Plötzlich dämmerte Flo etwas. »Darum geht es doch auch in diesen Clips. Riemschneider hat mir davon erzählt. Der ›Doc-Clip‹.
Der ›Cop-Clip‹. Er hat mir auch einen gezeigt. Den ›Dig-Clip‹, den aus China.«
David nickte. »Dann weißt du ja, was ich meine. Denkan den ›Dig-Clip‹: Der Grubenarbeiter, der schaufelt, bekommt eine Maske. Wer nicht schaufelt, muss sie abgeben. So haben
es die Arbeiter in dem Tunnel instinktiv gehandhabt. Die sind da unten nicht alle gleich viel wert. Wer nicht schaufelt, ist
weniger wert. Deshalb zieht er den Kürzeren, wenn es nicht genug Masken für alle gibt.« Er verengte die Augen und sah Flo
genau an. »Und der springende Punkt ist nun, dass das unserer herrschenden Moral widerspricht. Denn die sagt ja, dass alle
Menschen gleich sind. Also sollte auch kein Unterschied zwischen den Grubenarbeitern gemacht werden, die noch schaufeln können,
und denjenigen, die es nicht mehr können. Wenn die Leute aber den Clip sehen, ist ihre spontane Reaktion absolut eindeutig.
Sie finden es
richtig
, dass die Masken an diejenigen Kumpel gehen, die noch schaufeln können. Denn das ist für alle das Beste. Mit diesem Urteil
aber distanzieren sie sich von der Moral der Gleichheit. Und indem sie sich davon distanzieren – verstehst du?! –, indem sie das tun, geschieht etwas ganz Wichtiges. Es zeigt sich, dass die Moral der Gleichheit eine
Scheinmoral
ist. Es ist nicht die Moral, die die Leute empfinden oder die sie leben wollen. Sie wollen sie eben genau
nicht
. Sie wollen vielmehr die Moral, bei der derjenige bevorzugt wird, der für alle wichtiger ist. In dem Moment, in dem du das
verstehst, begreifst du, dass die herrschende Moral eben eine
Schein moral
ist!«
»Aha.« Die Faust in Flos Eingeweiden war wieder da. Und wütete. So sehr, dass es ihm fast den Atem nahm. »Und was hat das
mit ›Tabu‹ zu tun?«
»In ›Tabu‹ geht es mir darum, dass der Zuschauer instinktiv zu einem ganz bestimmten Urteil kommt. Er solldenken, dass der, der in dem Film David heißt, recht hat, wenn er sagt, er und der andere Typ seien nicht gleich.«
Flo sprang auf, richtig sauer jetzt. »Damit hat er
recht
? Hast du dich nicht eben genau dafür entschuldigt? Hast du nicht eben gesagt, dass es dir leidtut, was damals passiert ist?«
David blieb sitzen. »Ja, es tut mir leid. Weil ich weiß, dass ich dich verletzt habe. Aber es war trotzdem richtig.«
»Was?!«
»Dass wir nicht gleich sind.«
»Und das hat dir das Recht gegeben, als alleiniger Autor genannt zu werden?«, schleuderte Flo ihm empört entgegen.
David wich der Frage aus. »Hör zu, Flo. Wirf jetzt nicht einfach alles achtlos über den Haufen. Überleg einen Moment. Ist
dir nie in den Sinn gekommen, dass es einen Unterschied zwischen uns geben
muss
? Dass wir nicht gleich sind.«
Flo erschrak. Aber er bemühte sich, es nicht zu zeigen. »Du erwartest keine Antwort darauf, oder?«
»Ich weiß, ich tu dir damit weh. Es tut mir leid. Aber ich mach das alles hier nicht zum Spaß. Es ist mir wichtig, verstehst
du?«
Flo sah ihm in die Augen. Er erkannte, dass David nicht log, man sah es seinen Augen an. Er war hochkonzentriert, sah angestrengt
aus,
Weitere Kostenlose Bücher