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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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Tagebüchern und Briefen, Memoiren, in Gerichtsakten, in Schriftstücken des Widerstandes und in Interviews, die der britische Geheimdienst mit Personen führte, die aus Deutschland kamen.
    Einzelnen Personen – Menschen in einflussreichen Positionen oder mit guten Kontakten, aber auch ganz gewöhnlichen Zeitgenossen – war es mithin durchaus möglich, etwas über die Massenmorde in Erfahrung zu bringen. Wie verbreitet solche Informationen in der Bevölkerung tatsächlich waren, lässt sich nicht einmal annähernd bestimmen. Ebenso wenig können wir Aussagen darüber treffen, wie viele Menschen solche Informationen als haltlose Gerüche oder als feindliche Kriegspropaganda abgetan haben. Bankier hat bereits darauf hingewiesen, dass man aus solchen subjektiven Quellen keine allgemeinen Schlüsse hinsichtlich der Einstellung »der Deutschen« ableiten kann. 83
    Sehen wir uns diese Informationen näher an.
    Zum einen liegt eine relativ große Zahl von Urteilen der Justiz wegen der Verbreitung von Informationen und Gerüchten über die »Endlösung« vor. Die Verurteilung erfolgte nach dem Heimtückegesetz beziehungsweise der Kriegssonderstrafrechtsverordnung. Die Urteile – sie sind von Bernward Dörner 84 und Ian Kershaw 85 erstmalig referiert worden – demonstrieren, dass in der Bevölkerung darüber gesprochen wurde, dass Juden in großer Zahl und auf unterschiedliche Weise umgebracht wurden, durch Erschießen, durch Verbrennen bei lebendigem Leibe, mit Hilfe von Gas, in besonderen Fahrzeugen oder auf andere Weise. Keiner der Verurteilten hatte jedoch eine konkrete Vorstellung von der Existenz und der Arbeitsweise von Vernichtungslagern. Die Urteile zeigen auch, dass in der Bevölkerung die Befürchtung verbreitet war, das deutsche Volk werde wegen der Verfolgung der Juden zur Rechenschaft gezogen werden. Verurteilt wurden Menschen, die Mitleid äußerten oder die Verbrechen an den Juden als Schande bezeichneten. Die Urteile belegen aber auch, dass die Justiz gewillt war, gegen die Verbreitung solcher Gerüchte einzuschreiten, notfalls mit äußerster Brutalität. Einige typische Fälle, die den Publikationen von Dörner und Kershaw entnommen sind, seien hier referiert. Die Urteile stammen im Übrigen sämtlich aus dem Zeitraum Mitte 1943 bis 1944, was darauf hindeutet, dass die Justiz erst mehr als ein Jahr, nachdem die Gerüchte über die Morde an den Juden einsetzten, massiv gegen deren Verbreitung einschritt:
    • Ein Sondergericht in Berlin verurteilte im August 1943 einen Friseurmeister aus Lehnin (Brandenburg) zu zwei Monaten Gefängnis, weil er einige Monate zuvor das Gerücht verbreitet hatte, man habe bei einem Luftangriff auf Berlin Juden in Häuser hineingetrieben und dort die Gashähne geöffnet. 86
    • Im März 1944 verurteilte ein Sondergericht in Oppeln eine Kleinbäuerin, die ihrer Nachbarin im Sommer des Vorjahres erzählt hatte, in Auschwitz würden Polen lebendig verbrannt. 87
    • Das Sondergericht Bielefeld veurteilte im Januar 1944 einen Buchhalter aus Brackwede, weil dieser gesagt habe: »Mit den Juden, das räche sich jetzt. Er habe von Frontkämpfern gehört, dass die Juden zu Tausenden hingemordet seien.« 88
    • Das Oberlandesgericht Hamm verurteilte im Juni 1944 einen Berliner Kaufmann in einem Heimtückeverfahren zu einer mehrjährigen Zuchthausstrafe, da er sich im November 1943 über die Ermordung von Juden durch Massenerschießungen und mit Hilfe von Gaswagen geäußert hatte. 89
    • Der Volksgerichtshof verurteilte im September 1943 einen Dentisten zum Tode, weil dieser in einem privaten Gespräch hatte verlauten lassen, es seien eine Million Juden ermordet worden. 90
    • Das Oberlandesgericht Hamm verurteilte im September 1944 eine Koblenzer Hausfrau zu einer Gefängnisstrafe, weil sie das Gerücht weiterverbreitet hatte, in Polen würden Massengräber geöffnet, um die Spuren des Mords an den Juden zu beseitigen. 91
    • Vom Sondergericht München wurde 1943 eine Frau verurteilt, die Meldungen ausländischer Sender über die Ermordung von Juden mit Gas weitergegeben hatte. Vom gleichen Gericht wurde 1944 ein Augsburger Möbelpacker verurteilt, weil er erklärt hatte, dass auf Veranlassung Hitlers Juden in einen Waggon geladen und mit Gas ermordet worden seien. 92
    Eine Vielzahl von Informationen und Gerüchten über die vor sich gehende Ermordung der Juden, vor allem über Erschießungen in den besetzten Gebieten der Sowjetunion, gelangte seit dem Sommer 1941 durch Soldaten

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