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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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zu einem öffentlichen »Zeugnis« der Kirche gegen die Verfolgung der Juden aufforderte. Dieses Dokument, das im Schweizerischen evangelischen Pressedienst vom 14. Juli 1943 wiedergegeben wurde, lässt deutlich erkennen, dass Diem über den systematischen Mord an den Juden informiert war. In Anlehnung an das Gleichnis vom barmherzigen Samariter schrieb Diem: »Jeder ›Nichtarier‹, ob Jude oder Christ, ist heute in Deutschland der ›unter die Mörder Gefallene‹.« Die Kirche habe gegenüber dem Staat die Verpflichtung, jedem Versuch, »die Judenfragen nach einem selbstgemachten politischen Evangelium zu ›lösen‹, d.h. das Judentum zu vernichten, aufs äußerste zu widerstehen.« 111
    Der Landesbischof von Württemberg, Theophil Wurm, richtete im Juli 1943 an Hitler und die Mitglieder der Reichsregierung einen Appell zugunsten der in »Mischehen« lebenden Juden, in dem er deutlich zu erkennen gab, dass auch er über den Massenmord an den Juden informiert war. »Nachdem die dem deutschen Zugriff unterliegenden Nichtarier in größtem Umfang beseitigt worden sind«, so heißt es hier, müsse befürchtet werden, »dass nunmehr auch die bisher noch verschont gebliebenen so genannten privilegierten Nichtarier erneut in Gefahr sind, in gleicher Weise behandelt zu werden«. Diese Absicht und die bereits ergriffenen »Vernichtungsmaßnahmen« stünden im »schärfsten Widerspruch zu dem Gebot Gottes und verletzen das Fundament alles abendländischen Denkens und Lebens«. 112
    Während diese Stellungnahmen allgemein davon ausgingen, dass die deportierten Juden ermordet wurden, gibt es eine Reihe von Anzeichen dafür, dass in der Bevölkerung ganz konkret über die Anwendung spezieller Mordtechniken spekuliert wurde. Relativ weit verbreitet waren Gerüchte über die Ermordung von Juden mit Hilfe von Gas. Dies geht im Einzelnen, wie wir bereits gesehen haben, aus verschiedenen Heimtückeverfahren hervor; Hinweise finden sich aber auch in Tagebüchern, so etwa in den bereits genannten Aufzeichnungen von Ulrich von Hassell 113 und des Wiener Anwalts Ludwig Haydn.
    Und es gibt weitere Beispiele: Lili Hahn, eine in Frankfurt lebende Journalistin, die als »jüdischer Mischling« ihren Beruf nicht ausüben konnte, hielt Ende 1941 in ihrem Tagebuch fest, es gehe das Gerücht um, die Insassen zweier Deportationszüge aus Frankfurt seien in der Nähe von Minsk in einem Tunnel vergast worden. 114 Tatsächlich beruhte dieses Gerücht auf einer Kombination zweier Informationen: Einer der Züge war nach Minsk gegangen, wo die Deportierten in das dortige Ghetto gesperrt wurden; die Insassen eines weiteren Transportes waren unmittelbar nach Verlassen des Zuges in Kowno erschossen worden. Wie wir sehen werden, liefen in Frankfurt ähnliche Gerüchte über die Ermordung der deportierten Juden um. Thomas Mann wiederum nutzte seine an deutsche Hörer gerichteten Rundfunksendungen, um detaillierte Informationen über die Ermordung von Juden mit Hilfe von Giftgas bekannt zu machen. 115
    Für Helmuth James von Moltke, einen der führenden Köpfe des Widerstandes und in der Völkerrechtsabteilung der Abwehr sehr gut positioniert, war es weder einfach, konkrete Informationen über die Vernichtungslager zu erhalten, noch fiel es ihm leicht, diese Informationen auch zu glauben. Am 10. Oktober 1942 schrieb er an seine Frau: »Gestern Mittag war es insofern interessant, als der Mann, mit dem ich aß, gerade aus dem Gouvernement kam und uns authentisch über den ›SS-Hochofen‹ berichtete. Ich habe es bisher nicht geglaubt, aber er hat mir versichert, dass es stimmte; in diesem Hochofen werden täglich 6000 Menschen ›verarbeitet‹«. 116
    Im März 1943 deponierte Moltke einen für einen britischen Kontaktmann bestimmten Brief in Schweden. In diesem, ohne Rücksicht auf die Zensur verfassten Brief heißt es: »Wir sind darüber informiert worden, dass in Oberschlesien ein großes KZ für 40 000 bis 50 000 Menschen gebaut wird, von denen 3000 bis 4000 pro Monat getötet werden sollen. Aber diese Informationen erreichen mich, ja sogar mich, der doch nach solchen Fakten sucht, in einer reichlich vagen, verschwommenen und unpräzisen Form.« 117
    Neben den verschiedenen Gerüchten über Erschießungen und den Einsatz von Gas findet sich in privaten Zeugnissen relativ häufig die Auffassung, die Deportation aus Deutschland führe – auf welche Weise auch immer – in den Tod. Hermann Samter, ein Mitarbeiter der jüdischen Gemeinde in Berlin,

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