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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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auf Urlaub ins Reichsgebiet. Auch in der Feldpost lassen sich solche Informationen nachweisen, allerdings in einem verhältnismäßig geringen Umfang.
    Zwar finden sich in diesen Briefen drastische Schilderungen von Mordaktionen und zustimmende Aussagen von Soldaten zur im Gang befindlichen »Vernichtung« der Juden – dokumentiert unter anderem in einer Reihe von Auswahleditionen 93 -, doch die breitere inhaltliche Auswertung von insgesamt Zehntausenden von Feldpostbriefen in Sammlungen deutscher Archive macht deutlich, dass die »Judenfrage« darin keine besondere Rolle spielte und Berichte über die »Endlösung« eher selten auftauchen.
    Martin Humburg, der 739 Briefe von 25 Soldaten an der Ostfront, die zwischen 1941 und 1944 geschrieben wurden, analysiert hat, kommt zu der Schlussfolgerung, dass nur 2 Prozent dieser Briefe sich mit dem Thema Juden befassen, wobei diese Briefe meist aus der ersten Kriegsphase stammen. 94 Klaus Latzel hat insgesamt 2749 Briefe von 22 Personen aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges ausgewertet. Ihm kommen die hier enthaltenen Informationen über die »Judenfrage« »eher diffus« vor: »Man erfährt von der Existenz von Ghettos, aber nicht, was dort geschieht, wie die Menschen darin leben, was der Schreiber davon hält, ob die Ghettos ihm selbstverständlich erschienen. Man erfährt von Enteignung der Juden und von Zwangsarbeit, wird aber erneut mit Andeutungen allein gelassen. […] Die Briefe bieten Details und Aspekte, ohne zu sagen, wovon, sie werfen Schlaglichter, ohne zu sagen, worauf: es fehlt der Zusammenhang, in den die einzelnen Beobachtungen einzuordnen wären.« Die Briefe zeigten, dass – ebenso wie in der deutschen Bevölkerung insgesamt – ein »wahrscheinlich weit verbreitetes Wissen von Einzelheiten der Praxis der Judenverfolgung und -vernichtung existierte, ohne dass diese Einzelheiten sich zum Gesamtbild der ›Endlösung‹ rundeten«. 95 In der Regel, so Latzels Befund, machten die Briefeschreiber in ihren Schilderungen vor der Schwelle zum Massenmord Halt. 96
    Die Tatsache, dass die Feldpostbriefe im Hinblick auf die Erschießungen relativ zurückhaltend waren, besagt selbstverständlich über den tatsächlichen Wissensstand der Briefeschreiber relativ wenig; die Zensur und der Charakter der Briefe – bei denen es ja in erster Linie um die Aufrechterhaltung der emotionalen Bindungen zwischen »Front« und »Heimat« ging – mögen dazu beigetragen haben, dass sich die Soldaten über dieses Thema nur selten äußerten.
    Von Soldaten stammende Erzählungen über Massenerschießungen lassen sich jedoch in einer ganzen Reihe von Fällen nachweisen. Der Schriftsteller Friedrich Reck-Malleczewen notierte am 30. Oktober 1942 in seinem Tagebuch, er habe mit einem Augenzeugen gesprochen, der gesehen habe, wie man »in K. Dreißigtausende Juden abschlachtete«. 97 Aus dem Tagebucheintrag des Wiener Anwalts Ludwig Haydn vom 29. Juni 1942 geht hervor, dass die Wiener Juden offen darüber redeten, dass sie nach der Deportation verhungern müssten oder erschossen würden. Am 30. Juli 1942 notierte er, in einer Gesellschaft würde unverblümt vom gewaltsamen Tod von Hunderttausenden jüdischen Frauen und Kindern in Polen gesprochen, und im Dezember hielt er nach einer Eisenbahnreise fest, ein Offizier habe im Zug offen über die Liquidierung der Juden geredet. 98 Die Journalistin Ursula von Kardorff erfuhr bei einem Aufenthalt auf dem Land im August 1943 von ihrem Gastgeber, Hans Graf von Hardenberg, von den »unbeschreiblichen Gräueln im Osten. Wie man die Juden vor Massengräbern erschossen hat.« 99 Ein Schweizer Journalist, der von Juli 1940 bis September 1943 als Korrespondent in Berlin gewesen war, gab nach seiner Rückkehr in die Schweiz gegenüber einem Informanten an, er wisse, dass die aus Berlin deportierten Juden nach Polen transportiert »oder erschossen« würden. 100
    Führende Vertreter des konservativen Widerstandes waren sich darüber im Klaren, dass in den besetzten Ostgebieten Massenexekutionen stattfanden und Hunderttausende von Juden ermordet worden waren – was allerdings nicht dazu führte, dass der Mord an den Juden im Zentrum der Überlegungen dieser Gruppierungen gestanden hätte. 101 Einer der führenden Persönlichkeiten des konservativen Widerstandes, Carl Goerdeler, erwähnte mehrfach Berichte von Angehörigen der Exekutionskommandos. Ein junger SS-Mann habe ihm erzählt, so Goerdeler in dem Entwurf eines Schreibens an

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