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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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Amerika büßen. Kein Mensch hat das Recht, ein Volk ausrotten zu wollen. Gewiss haben uns die Juden viel geschadet, aber die hat man von 1933 bis 1941 abreisen lassen.« 77
    Die NSDAP-Kreisleitung Augsburg-Stadt meldete im September 1942, es sei propagandistisch »nicht allzu glücklich, wenn in Bezug auf den indischen Freiheitskampf die Engländer als Mörder und Unterdrücker hingestellt werden, denn unsere Bevölkerung zieht dabei sofort wieder Vergleiche, und bei dem ausgesprochenen Gerechtigkeitssinn des Deutschen kommen dann Hinweise auf die Vorgänge im Osten und in anderen Staaten Europas«. 78 Der Regierungspräsident von Schwaben wusste mitzuteilen, »ein weiteres Gerücht über das Schicksal der nach dem Osten verbrachten Juden verursacht bei ängstlichen Volksgenossen Besorgnisse wegen Vergeltungsmaßnahmen unserer Feinde bei einem ungünstigen Kriegsausgang«. 79
    Die SD-Außenstellte Schwabach berichtete im Dezember 1942, eine der »stärksten Beunruhigungen in kirchlich gebundenen Kreisen und in der Landbevölkerung bilden z. Zt. Nachrichten aus Russland, in denen von Erschießung und Ausrottung der Juden die Rede ist. Diese Mitteilung hinterlässt in den genannten Bevölkerungskreisen vielfach große Angst, Kummer und Sorgen. Nach Ansicht weiter Kreise der Landbevölkerung steht es heute noch nicht fest, dass wir den Krieg gewinnen und dass dann einmal, wenn die Juden wieder nach Deutschland kommen, [sie] fürchterliche Rache an uns nehmen.« 80 Gerüchte über Erschießungen im Osten (die sich jedoch auf Kriegsgefangene und allgemein auf Zivilisten, nicht konkret auf Juden bezogen) meldete auch die Gendarmerie Bischofsheim Anfang 1943. 81
    Die vorliegenden Berichte beziehen sich also entweder direkt auf Erschießungen oder, ohne konkrete Einzelheiten zu nennen, auf allgemeine Maßnahmen zur »Ausrottung« der Juden; aus einer Reihe von Äußerungen wird durchaus deutlich, dass den Massenmorden ein systematischer Charakter zugeschrieben wurde, dass man sie als Teil eines Programms wahrnahm. Hingegen sind konkrete Einzelheiten über den Einsatz von Gas zur Ermordung von Juden geschweige denn über Vernichtungslager in den offiziellen Stimmungsberichten nicht zu finden.
    Aus der Abwesenheit solcher Hinweise in den offiziellen Stimmungsberichten kann man jedoch noch nicht die Schlussfolgerung ziehen, dass es solche Informationen und Gerüchte nicht gegeben hätte. Diese Lücke in den offiziellen Stimmungsberichten kann durchaus auf einen feineren Geheimhaltungsfilter zurückzuführen sein. Wir haben ja bereits gesehen, dass das Schweigen der Meldungen aus dem Reich im Hinblick auf »Euthanasie« und Deportationen keineswegs hieß, dass die Bevölkerung sich mit diesen Phänomenen nicht beschäftigt hätte.
    Im Vergleich zu den Massenexekutionen in Osteuropa, die vor der einheimischen Bevölkerung nicht verborgen blieben und häufig von deutschen Soldaten beobachtet wurden, war der Grad der Geheimhaltung im Hinblick auf Gaskammern, Gaswagen und Vernichtungslager deutlich höher. Die durch deutsche Soldaten massenhaft ins Reich gebrachten Informationen über Exekutionen und allgemeine Gerüchte über die »Ausrottung« der Juden (die ja dem Tenor öffentlicher Stellungnahmen führender Nazis entsprach) konnte die Stimmungsberichterstattung hingegen nicht ignorieren.
    Dass das Thema Gas in den Stimmungsberichten nicht vorkommt, wird jedoch spätestens dann verdächtig, wenn man andere zeitgenössische Zeugnisse heranzieht, die Informationen über Massenmorde an den Juden enthalten: Hier wird das Thema Mord durch Gas durchaus angesprochen.

Die Perspektive des Einzelnen: Tagebücher, Briefe, Gerichtsverfahren, Interviews, ausländische Besucher
    David Bankier 82 hat eine größere Anzahl von Aussagen in Deutschland lebender Juden und Nichtjuden zusammengetragen, denen sich entnehmen lässt, dass diese Personen während des Krieges Kenntnis von dem Massenmord an Juden hatten. Die meisten dieser Aussagen, die sich noch um einige weitere Beispiele ergänzen lassen, beziehen sich auf Erschißungen; eine ganze Reihe von Zeitgenossen ging allgemein davon aus, dass die »in den Osten« deportierten Juden bei ihrer Ankunft der Tod erwartete. Vor allem aber kursierten verschiedene Gerüchte über die Tötung von Juden mit Gas; daneben gab es, allerdings in sehr viel geringerem Maße und in relativ vager Form, Gerüchte über Vernichtungslager. Diese bruchstückhaften Informationen finden sich weit verstreut: in

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