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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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Mitarbeiter des Propagandaministeriums teilte mit, »dass etwa bis März alle Juden evakuiert sein würden. Eine Durchführung der Transporte innerhalb kürzester Zeit sei nicht ohne weiteres möglich, da Reichsminister Speer sich hier unter Hinweis auf Belange der Rüstungsindustrie ziemlich stark eingeschaltet habe. Eine Kasernierung scheitere wiederum an der Barackenfrage.« Goebbels drängte weiter; der Hinweis auf die mangelnden Unterbringungsmöglichkeiten sei »in keinerlei Weise stichhaltig; in dem Falle seien die Juden eben etwas primitiver unterzubringen. Zimperlichkeit sei hier in keiner Weise angebracht.« 65
    Diese Zitate aus dem Jahr 1942 verdeutlichen, dass Goebbels bei der Ausrichtung der Öffentlichkeit nicht nur die Konsequenzen aus der Radikalisierung der nationalsozialistischen »Judenpolitik« zog, sondern dass seine Bemühungen, ein möglichst geschlossenes Erscheinungsbild der Reichshauptstadt herzustellen, in dem die Juden keinen Platz mehr hatten, umgekehrt den Radikalisierungsprozess vorantrieben. Die Formierung der nationalsozialistisch kontrollierten Öffentlichkeit war unübersehbar ein integraler Bestandteil der »Judenpolitik«; ohne das Element der öffentlichen Darstellung ist die Entwicklung der »Judenpolitik« überhaupt nicht zu verstehen.

Reaktionen der Bevölkerung in den Stimmungsberichten
    Den Stimmungsberichten des Jahres 1942 ist zunächst zu entnehmen, dass die Bevölkerung die Maßnahmen gegen die noch in Deutschland lebenden Juden als inkonsequent und nicht einschneidend genug betrachtete. So wurde etwa verschiedentlich beanstandet, dass Juden nach wie vor öffentliche Verkehrsmittel benutzten, dass die ihnen zugewiesenen Einkaufszeiten zu großzügig seien und dass mit »Ariern« verheiratete Juden unter bestimmten Umständen 66 keinen Stern tragen mussten. 67
    Die SD-Außenstelle Höxter meldete beispielsweise im Januar 1942, die neue Regelung des Regierungspräsidenten über die Einkaufszeiten für Juden habe »einen Sturm der Entrüstung vor allem bei den Hausfrauen hervorgerufen«; unter anderem sei die Meinung geäußert worden, »dass es mit Deutschland wohl sehr schlecht stehen müsse, wenn man sich veranlasst sieht, den Juden wieder Vergünstigungen einzuräumen«. Der Bericht kam zu der Schlussfolgerung: »Nach allem, was beobachtet werden konnte, hat selten eine behördliche Regelung der öffentlichen Meinung derart entgegengestanden, als diese Neuregelung der Einkaufszeiten für Juden.« 68
    In diesem seltenen Fall sind wir allerdings in der Lage, die Authentizität des Berichts anhand anderer Überlieferungen zu überprüfen. Daraus ergibt sich folgender Sachverhalt: Nachdem der SD-Bericht von der Stadtverwaltung als übertrieben zurückgewiesen wurde, musste der Leiter der SD-Außenstelle zugeben, dass der von ihm so dramatisch herausgestellte Bericht über die »öffentliche Meinung« lediglich auf dem Gerede einiger Dorffrauen basierte. 69
    Dieses Beispiel bestätigt die schon verschiedentlich festgestellte Tendenz der Stimmungsberichterstatter, einzelne Beobachtungen von Informanten oder Äußerungen aus parteinahen Kreisen als Meinung »der Bevölkerung« auszugeben, und unterstreicht, wie absurd und irreführend es wäre, Berichte über antisemitische Einstellungen »der Bevölkerung« ohne weiteres für bare Münze zu nehmen und daraus zu schließen, die antiüdische Politik sei von einer breiten antisemitischen Volksstimmung vorangetrieben worden. Das Beispiel Höxter illustriert, dass das Verhältnis gerade umgekehrt war: Die »Volksstimmung« wurde von radikalen Kräften innerhalb des Regimes instrumentalisiert, um die Eskalation der antijüdischen Politik begründen zu können.
    Nach einer vorübergehenden Einstellung der Deportationen aus Deutschland im Winter 1941/42 nahm das RSHA im März 1942 die Massenverschleppungen deutscher Juden nach Polen wieder auf. Aus dem Monat April 1942 liegen einige weitere Berichte über die Reaktion der Bevölkerung auf die Deportationen vor. Der Landrat Bad Neustadt/Saale berichtete, der »Abtransport der Juden« sei »ohne jeden Zwischenfall vor sich gegangen«. Es sei allerdings im »besonnenen Teil der Bevölkerung daran Anstoß genommen« worden, dass »eine große, johlende Schar Schulkinder den Zug der Juden bis zum Bahnhof begleitete und dort ihr Geschrei bis zur Abfahrt des Zuges fortsetzte«. 70 Die NSDAP-Ortsgruppe Niederwern vermeldete, die »Entfernung einiger Judenstämmlinge aus der hiesigen

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