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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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Aufmerksamkeit auf die – wohlbekannten- eigenen Verbrechen gelenkt werde. Zum anderen führte die Mobilisierung von Ängsten vor jüdisch-bolschewistischen Schergen und anglo-jüdischen Luftgangstern zu unliebsamen Erörterungen in der Bevölkerung, warum man sich denn überhaupt mit einer so mächtigen Kriegskoalition angelegt habe, sowie zu Fatalismus und Depression.
    Die Botschaft des Regimes, an der »Judenfrage« entscheide sich nicht nur die Existenz des »Dritten Reiches«, sondern auch die des deutschen Volkes, wurde in der Bevölkerung durchaus verstanden – und gleichzeitig sperrte man sich offenkundig gegen die Vorstellung einer kollektiven Haftung für die verübten Verbrechen. Je wahrscheinlicher diese Niederlage wurde, desto größer war das Bedürfnis, sich dem Wissen über das offensichtlich vor sich gehende Verbrechen zu entziehen und sich in ostentative Ahnungslosigkeit zu flüchten. Diese Tendenz, die Hoffnung, dass die allgemeine Bevölkerung im Falle einer Niederlage nicht für den Mord an den Juden zur Rechenschaft gezogen werden würde, verstärkte sich noch, nachdem das Regime seine »Kraft durch Furcht«-Propaganda Mitte 1943 als weitgehend kontraproduktiv erkannt und aufgegeben hatte. Denn nachdem das Deutsche Reich in die Defensive geraten war, musste die Beschwörung der »jüdischen Weltverschwörung« als »Kitt« der heterogenen Feindkoalition vorhandene Ängste noch verschärfen. Aus Sicht der Propagandisten galt es nun vielmehr, die Gegensätze im feindlichen Lager herauszuarbeiten – insbesondere, indem sie das Übergewicht der Sowjetunion in der Feindkoalition betonten und die im Falle einer deutschen Niederlage drohende Beherrschung Europas durch den Bolschewismus in dramatischer Form schilderten. Die Drohungen mit der »jüdischen Rache« traten, ebenso wie die öffentlichen Hinweise auf die vor sich gehende »Ausrottung« der Juden in den Hintergrund. Stattdessen wurde ein Mantel des Schweigens über die Maßnahmen zur »Endlösung« ausgebreitet. Die Partei-Kanzlei belegte das Thema offiziell mit einem Erörterungsverbot, die Justiz griff hinsichtlich der Gerüchtebildung in der Bevölkerung schärfer durch. Hatte das Regime zwischen Spätsommer 1941 und Frühjahr 1943 auf den deutlichen Unwillen der Bevölkerung in der »Judenfrage« mit verstärkter antisemitischer Propaganda reagiert und sich immer offener zur Vernichtung und Ausrottung der Juden bekannt, so wurde die »Endlösung« ab Mitte 1943 mehr und mehr zum Un-Thema. Die Tatsache, dass Goebbels Ende 1943 Schlägertrupps der Partei in die Berliner Kneipen entsandte, um möglicher Kritik schlagkräftig zu begegnen, charakterisiert die Situation: Äußerungen, die sich außerhalb des vom Regime verordneten Rahmens bewegten, wurden gewaltsam unterdrückt.
    In dieser von Angst – sowohl vor der »jüdischen Rache« als auch vor Erörterung der zum Tabu gewordenen »Endlösung« – erfüllten Atmosphäre der zweiten Kriegshälfte war die Bevölkerung offenbar mehr oder weniger unwillig, sich weiterhin mit Details der »Judenfrage« zu befassen und die bruchstückhaft vorhandenen Einzelinformationen und offiziellen Stellungnahmen des Regimes zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen. Damit hätte man sich eingestehen müssen, dass der Massenmord an den Juden ein Jahrhundertverbrechen darstellte, das sich wesentlich von den an anderen verfolgten Gruppen und unterjochten Völkern verübten Verbrechen unterschied. Zwischen Wissen und Unwissen gab es also eine breite Grauzone, gekennzeichnet durch Gerüchte und Halbwahrheiten, Imagination, verordnete und selbst auferlegte Kommunikationsbeschränkungen, Nicht-Wissen-Wollen und Nicht-Begreifen-Können. Die Tatsache, dass das Thema in den letzten beiden Kriegsjahren eine wesentlich geringere Rolle in der Propaganda des Regimes wie in der Deutschlandpropaganda der Alliierten spielte als im Zeitraum 1942 bis Mitte 1943, beförderte die Tendenz zur Verdrängung noch.
    Die einfachste und vorherrschende Haltung war daher sichtbar zur Schau getragene Indifferenz und Passivität gegenüber der »Judenfrage« – eine Einstellung, die nicht mit bloßem Desinteresse an der Verfolgung der Juden verwechselt werden darf, sondern als Versuch gesehen werden muss, sich jeder Verantwortung für das Geschehen durch ostentative Ahnungslosigkeit zu entziehen. Es scheint, als habe die nach Kriegsende zur stereotypen Floskel gewordene Redewendung, man habe »davon« nichts gewusst, ihre Wurzeln in eben

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