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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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parteiinterne Sprachregelung, in der sie in einer Weise Stellung zu Gerüchten über die Erschießungen im Osten nahm, die als Bestätigung gelesen werden konnte. Gleichzeitig versuchte das Regime, die immer offener propagierte Vernichtung der Juden zu rechtfertigen: Man komme damit der jüdischen Vernichtungsabsicht zuvor.
    Als die Alliierten im Dezember 1942 mit großem propagandistischem Aufwand die systematische Ermordung der Juden Europas durch das NS-Regime anprangerten, wies die deutsche Propaganda diese Anklage nicht zurück, sondern bemühte sich vielmehr mit einer Entlastungskampagne, die angebliche alliierte Kriegsverbrechen zum Inhalt hatte, um Ablenkung. Das Regime unternahm gar nicht erst den Versuch, das Verbrechen zu leugnen. Die Entlastungskampagne scheiterte jedoch nicht zuletzt an ihrer eigenen Unglaubwürdigkeit kläglich. Die Schilderungen der angeblich von Alliierten verübten Gräueltaten lieferten allerdings den Gerüchten über den Massenmord an Juden neue Nahrung.
    Die öffentliche Handhabung des Themas durch das Regime in der zweiten Jahreshälfte 1942 lief also darauf hinaus, die umlaufenden Gerüchte indirekt zu bestätigen; dahinter stand offenkundig das Kalkül, die deutsche Bevölkerung zu Zeugen und Mitwissern des Massenmordes an den Juden zu machen. Die »Judenfrage« wurde so zu einem öffentlichen Geheimnis; umgeben von einer Aura des Unheimlichen, handelte es sich um etwas, worüber man besser nicht sprach, das im allgemeinen Bewusstsein jedoch deutlich präsent war. Die vorhandenen Informationen zu einem Gesamtbild vom wirklichen Umfang der Judenverfolgung – europaweiten Deportationen mit dem Ziel der Ermordung der Juden in den Gaskammern der Vernichtungslager – zusammenzusetzen, war in dieser Atmosphäre für die meisten offenbar außerordentlich schwierig.
    Seit Mitte 1942 propagierte das Regime zunehmend – ein ungefähres Wissen um die »Endlösung« voraussetzend – und ganz offen, dass im Falle einer Niederlage in diesem Krieg die Juden den Deutschen das Gleiche zufügen würden, was diese ihnen angetan hatten. Ein unbestimmtes Gefühl, dass die »Judenfrage« mit dem Fortgang des Krieges und mit der Frage des eigenen Überlebens verbunden sei, war offenbar weit verbreitet. Nach der Entdeckung der Massengräber in Katyn ging die deutsche Propaganda Mitte April 1943 weiter in die Offensive. Nun bekannte sich das Regime nicht nur in aller Offenheit und in unmissverständlichen Formulierungen zur Vernichtung der Juden, sondern ging so weit, diese zum zentralen Kriegsziel zu erklären. Nach offizieller Darstellung ging es eigentlich um einen »Kampf gegen Juda«, um einen »Kampf auf Leben und Tod«.
    Der deutschen Bevölkerung wurde eingehämmert, die Mobilisierung für den Totalen Krieg, die das Regime seit Anfang 1943 betrieb, sei für einen kompromisslos geführten »Rassekrieg« notwendig, in dem der jüdische »Erzfeind« ausgerottet werden müsse, bevor dieser seine Ausrottungsabsicht gegenüber dem deutschen Volk verwirklichen könne. Nach der drastischen Art und Weise, in der im Zuge der Katyn-Kampagne über die Beseitigung der Juden gesprochen wurde, sollte niemand mehr behaupten können, er habe von diesen Vorgängen nichts gewusst.
    1943 versuchte das Regime also noch einmal, die von ihm gesteuerte Öffentlichkeit mit Hilfe der »Judenfrage« neu auszurichten. Der Bevölkerung wurde klar gemacht, dass sie im Falle einer Niederlage für die Verbrechen des Regimes als dessen Mitwisser und Komplizen zur Rechenschaft gezogen werden würde; Angst vor Vergeltung sollte die letzten Reserven mobilisieren und den Durchhaltewillen der Bevölkerung zum Fanatismus steigern. Dabei wurde insbesondere der Luftkrieg als jüdischer Terror und Vorgeschmack auf das, was dem deutschen Volk nach einem alliierten Sieg drohe, dargestellt. Die »dem Volk« abverlangten zusätzlichen Kriegsanstrengungen versuchte das Regime in ein Plebiszit für die radikalste denkbare »Lösung der Judenfrage« umzumünzen.
    Die antisemitische Kampagne nach Katyn fuhr sich jedoch Ende Mai/Anfang Juni 1943 fest und wurde schließlich abgebrochen, ja Goebbels musste sich für das Übermaß an antisemitischer Propaganda gegenüber der Partei offiziell rechtfertigen. Denn es stellte sich heraus, dass die Angstpropaganda erhebliche Irritationen und negative Reaktionen auslöste. Zum einen hielten viele es offensichtlich nicht für opportun, Gräueltaten der Kriegsgegner anzuprangern, weil dadurch nur die

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