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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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seinen Anstrengungen zur Ausrichtung der Öffentlichkeit gegen solche Äußerungen des Unwillens durchzusetzen und die Bevölkerung mehr und mehr in die »Judenpolitik« zu involvieren, selbst wenn dies einen immer größeren Aufwand an Propaganda und Repression erforderte und die Geheimhaltung der »Endlösung« zumindest teilweise aufgegeben werden musste.
     
    Werfen wir abschließend noch einmal einen Blick auf die einzelnen Phasen jenes Prozesses im Zusammenhang. Wir fassen dabei die Ergebnisse der Stimmungsberichtsanalyse mit dem zusammen, was wir aus anderen Quellen über die Reaktion der Bevölkerung wissen, und stellen diese Informationen dem rekonstruierten Verlauf der Propagandakampagnen gegenüber.
    Die schon in der Weimarer Republik einsetzenden Bemühungen der Nationalsozialisten, in der Bevölkerung einen Boykott jüdischer Geschäfte und Dienstleistungen durchzusetzen, blieben außerhalb der Kernanhängerschaft der Nationalsozialisten ohne größere sichtbare Auswirkungen. Der Boykott war nur dann – einigermaßen – erfolgreich, wenn er wie am 1. April 1933 mit massiven Bedrohungen der Kundschaft einherging. Durch bloße Propaganda war das Käuferverhalten offenkundig nicht wesentlich zu beeinflussen.
    Trotz erheblicher Anstrengungen, die in den folgenden Jahren noch intensiviert wurden, sollte es dem Regime nicht gelingen, den Boykott mit Hilfe von Propaganda, Druck durch die örtlichen Parteiorganisationen auf die Kunden und Krawall in der Bevölkerung durchzusetzen. Erst Berufsverbote und »Arisierung«, schließlich das gesetzliche Verbot der wirtschaftlichen Betätigung der Juden in Folge des Novemberpogroms unterbanden die geschäftlichen Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden tatsächlich.
    Die von der Partei erhobene Forderung an die Bevölkerung, intime und freundschaftliche Beziehungen zu Juden abzubrechen, ließ sich erst mittels der Rassenschande-Krawalle 1935, letztlich erst nach dem Erlass der Nürnberger Gesetze durchsetzen. Die bloße Verächtlichmachung als »Judenfreunde« und »Rasseschänder« seitens der Partei hatte offenbar nicht ausgereicht, nichtjüdische Menschen von solchen Beziehungen abzuhalten.
    Dass die Bevölkerung nach dem Erlass der Nürnberger Gesetze allgemein mit Befriedigung auf die nun erfolgende biologische Segregation der Juden reagierte, ist nicht nachweisbar. Eher dürfte sich das Gefühl der Erleichterung auf das – scheinbare – Ende der Krawalle bezogen haben, und wir haben einige Anhaltspunkte dafür, dass das Gefühl der Zufriedenheit mit den Gesetzen durch die Berichterstattung übertrieben wurde, da die berichterstattenden Instanzen Partei, Polizei und staatliche Bürokratie alle drei ein starkes Interesse daran hatten, die antisemitische Kampagne des Jahres 1935 abzuschließen. Man muss sich auch vor Augen halten, dass die Forderung nach dem Ausschluss der Juden von der deutschen Staatsbürgerschaft und das Verbot von Eheschließungen beziehungsweise intimen Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden vor 1933 nur von der aktiven Anhängerschaft der NSDAP und völkischen Splittergruppen vertreten wurde. Die etablierten rechtskonservativen Kräfte griffen diese Themen nicht auf, und in der politischen Mitte und auf Seiten der Linken galten solche Überlegungen geradezu als absurd. Dass es den Nationalsozialisten gelungen sein sollte, in einem Zeitraum von weniger als drei Jahren für diese radikal-antisemitischen Forderungen eine breite Mehrheit in der Bevölkerung hinter sich zu bringen, ist höchst unwahrscheinlich – zumal angesichts der Tatsache, dass sich das Regime insgesamt gesehen noch keineswegs konsolidiert hatte.
    Die Politik des Regimes, den vollständigen Ausschluss der Juden aus dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben mit dem Pogrom vom November 1938 zu vervollkommnen und durch Terror eine Massenflucht der Juden aus Deutschland auszulösen, nahm die Bevölkerung letztlich zwar hin, aber mit erheblichem Widerwillen, der sich vor allem gegen die Gewalttätigkeiten und Zerstörungen richtete. Trotz der vom Regime öffentlich gepflegten Interpretation der passiven Hinnahme als Zustimmung lässt sich an der unmittelbar nach dem Novemberpogrom gestarteten Propagandakampagne ablesen, dass aus Sicht der Verantwortlichen Rechtfertigungsbedarf bestand und der öffentlich zur Schau gestellte Antisemitismus noch zu wünschen übrig ließ.
    Diese Propagandakampagne konnte nur unter großen Anstrengungen und Schwierigkeiten über den

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