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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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Winter 1938/39 hinweg aufrechterhalten werden. Die Tatsache, dass die Zeitungsredaktionen die Weisungen des Propagandaministeriums nicht so recht umsetzen wollten, hatte mehrere Ursachen: Zum einen zeigte sich, dass nach sechs Jahren NS-Judenverfolgung die weitere Hervorhebung einer »jüdischen Gefahr« in Deutschland propagandistisch wenig glaubwürdig war. Zum anderen erwies sich der Anfang 1939 eingeschlagene Kurs, die international angeblich dominierende Stellung der Juden zu betonen, als außenpolitisch riskant. Und: Wir können annehmen, dass die relativ starke Ablehnung, auf die die Gewaltaktionen vom 9. November bei der deutschen Bevölkerung trafen, ein Klima geschaffen hatte, das für die Rezeption einer scharfen antisemitischen Propagandakampagne nicht günstig war. Die Strategie, die Gewaltaktion im Nachhinein propagandistisch zu rechtfertigen und gerade die Schichten der deutschen Gesellschaft, die sich über den Pogrom so empört gezeigt hatten – insbesondere das Bildungsbürgertum -, unter Druck zu setzten, fruchtete letztlich wenig.
    Die den Stimmungsberichten des Jahres 1939 zu entnehmende Indifferenz der Bevölkerung in der »Judenfrage« ist daher nicht glaubwürdig. Dieses Desinteresse scheint eher Ausdruck einer Übersättigung mit antisemitischer Propaganda zu sein. Außerdem hatten die Parteidienststellen und staatlichen Behörden kein Interesse daran, nach der vollzogenen Ausschaltung der Juden aus Wirtschaft und Gesellschaft das Thema in den Stimmungsberichten weiter übermäßig zu strapazieren. Die Zeichen waren auf »Beruhigung« der Situation gesetzt.
    Zwischen dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges im September 1939 und dem Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion im Juni 1941 spielte die »Judenfrage« in der nationalsozialistisch ausgerichteten Öffentlichkeit keine wesentliche Rolle und taucht dementsprechend auch in der Stimmungsberichterstattung nur selten auf. Dies änderte sich erst im Sommer 1941, als das Regime den Kampf gegen den »jüdischen Bolschewismus« zu einem zentralen Kriegsziel erhob. Mit zunehmender Verschlechterung des Verhältnisses zu den Vereinigten Staaten im Laufe des Sommers geriet auch Präsident Roosevelt als »Marionette jüdischer Interessen« ins Visier der Propaganda, und die Bevölkerung wurde allmählich auf einen Weltkrieg gegen eine »jüdische Weltverschwörung« vorbereitet.
    Die äußere Kennzeichnung der deutschen Juden im September 1941, ihre Sichtbarmachung als »innere Feinde«, war Teil dieses Szenarios. Insbesondere den internen Unterlagen des Propagandaministeriums und dem Verlauf der Propagandakampagne lässt sich aber entnehmen, dass die Kennzeichnung keineswegs Zustimmung, sondern in unerwartetem Ausmaß Gesten der Solidarität provozierte. Das Regime entschloss sich daher, ein mit Konzentrationslagerhaft bewehrtes totales Kontaktverbot gegenüber Juden zu verhängen und die antisemitische Propaganda weiter zu verschärfen. Die Mitte Oktober beginnenden Deportationen dagegen thematisierte die Propaganda nur indirekt; gleichwohl wurden sie, wie aus lokalen Stimmungsberichten hervorgeht, in der Bevölkerung durchaus stark beachtet. Dem Regime gelang es offenbar nur noch mit äußerster Mühe, das äußerlich wahrnehmbare Verhalten der Bevölkerung in der »Judenfrage« so zu steuern, dass es sich als populäre Zustimmung zur offiziellen Politik darstellen ließ.
    Ab 1942 gerieten die Anstrengungen zur Ausrichtung der Bevölkerung auf die »Endlösung« endgültig zum Fiasko. Nach dem Misserfolg der Kennzeichnungspropaganda verzichteten die Verantwortlichen in den folgenden Monaten darauf, weitere Einzelheiten der deutschen »Judenpolitik« publik zu machen. Im Gegensatz dazu standen jedoch die wiederholten, groß aufgemachten Erklärungen Hitlers und anderer führender Nationalsozialisten zur »Vernichtung« und »Ausrottung« der Juden sowie die Tatsache, dass die Propaganda das antisemitische Thema keineswegs aufgab.
    Im Laufe des Jahres 1942 machten im Reichsgebiet zunehmend Gerüchte über die Ermordung der Juden die Runde. Vor allem über Erschießungen wurde häufig spekuliert, und vielen war klar, dass die Deportierten dem Tod entgegensahen. Gemutmaßt wurde auch über den Massenmord mit Giftgas, konkrete Informationen über Vernichtungslager waren indes kaum in Umlauf. Ab Mitte 1942 begann das Regime, auf die zunehmenden Gerüchte über die Ermordung der Juden offensiv zu reagieren. Im Oktober erließ die Partei-Kanzlei eine

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