"Davon haben wir nichts gewusst!"
man spätestens seit dem Beginn der Massenpolitik Ende des neunzehnten Jahrhunderts beobachten kann und die in den erbitterten politischen Auseinandersetzungen der Weimarer Republik ihren Ausdruck fand, mit der NS-Machtergreifung schlagartig beseitigt gewesen sein soll.
Kennzeichnend für die deutsche Gesellschaft des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts sind vielmehr eine starke Ausprägung von konfessionellen Unterschieden, die Erhaltung eines starken Zusammengehörigkeitsgefühls in Ländern und Provinzen, die Ausformung sozialer Klassenbildungen und Schichtungen, ja Elemente eines ausgesprochen »ständischen« Denkens, die beispielsweise in der starren Verteidigung sozialer Privilegien und der Betonung von »feinen Unterschieden« im jeweiligen Habitus zum Ausdruck kamen. Zum Bild gehört aber auch die Überformung und Kontrastierung solcher Unterschiede durch »Weltanschauungen« und Bildung politischer Lager oder sozialmoralischer Milieus.
Die entschiedene Absicht der Nationalsozialisten war es, bestehende Unterschiede und Gegensätze mit Hilfe des Konstrukts der nationalsozialistisch geführten, homogenen »Volksgemeinschaft« aufzuheben. Die Berichterstattung des Regimes über die Stimmung »des Volkes« muss daher in erster Linie als Bestandteil dieser Strategie verstanden werden. Denn nach nationalsozialistischer Auffassung war das »Volk« grundsätzlich nur als eine geschlossene Einheit denkbar. Es lohnt sich, darauf näher einzugehen.
»Das politische Volk«, schrieb etwa der führende Verfassungsrechtler und – wenn man ihn so nennen will – politische Theoretiker des Nationalsozialismus, Ernst Rudolf Huber, »ist als geschichtliche Erscheinung durch die Prinzipien der Einheit und Ganzheit bestimmt. Nur als Einheit und Ganzheit ist das Volk eine politische Wirklichkeit. […] Die Freiheit und Selbstherrlichkeit des Einzelnen, von der jedes politische Denken [in der »liberalistischen« Ära; P. L.] ausging, zerstörten die innere Einheit der Gemeinschaft und lösten jede ganzheitliche Ordnung auf.« 70 Die Prinzipien von Einheit und Ganzheit setzten nach Huber voraus, dass innerhalb der »völkischen Einheit« nur »organische Gliederungen«, nicht aber »feindliche Gruppen und Klassen« bestehen könnten: »Denn die Parteienbildung ist kein Ausdruck naturgegebener, organischer Verschiedenheit im Volkskörper, sondern sie bedeutet eine willkürliche Zerreißung, die die politische Gemeinsamkeit in Frage stellt. Die völkische Einheit setzt eine einheitliche politische Weltanschauung voraus, die allein und ausschließlich Geltung besitzt. Jede Parteienspaltung wäre mit diesem Prinzip politisch-weltanschaulicher Einheit unvereinbar.« 71
Im Unterschied zur Demokratie, in der der politische Prozess sich in Form von Abstimmungen und nach dem Mehrheitsprinzip vollzieht, handelt Huber zufolge das auf »völkischer« Grundlage geeinte Volk nur geschlossen, und zwar »nach dem Prinzip von Führung und Gefolgschaft«. 72 Das politische Handeln des Volkes ist nichts anderes als der Ausdruck des in ihm angelegten Strebens »zur Selbstgestaltung und Selbstdarstellung, zur Vertiefung und Erneuerung seiner Eigenart«. 73
Nimmt man diese Äußerungen ernst – und angesichts der starken Ideologiebeladenheit des NS-Systems und seiner Repräsentanten muss man das wohl tun -, so wird klar, dass das NS-Regime seinem ganzen Selbstverständnis nach »Volksstimmung« und »Volksmeinung« grundsätzlich nur in einer sehr eingeschränkten Perspektive wahrnehmen konnte: Die aktuelle Volksstimmung spiegelte nicht einfach unterschiedliche Strömungen innerhalb der Bevölkerung wider, sondern die momentane Stimmung des Volkes war stets dem Ideal völkischer »Einheit« und »Ganzheit« unterzuordnen. In der Volksmeinung musste immer die grundsätzliche »Gefolgschaft« gegenüber der politischen Führung zum Ausdruck kommen. Diese Gefolgschaft mochte stimmungsmäßigen Schwankungen unterliegen, sie konnte aber grundsätzlich nicht durch Stimmungen infrage gestellt werden; denn Gefolgschaft war das unverzichtbare Bindeglied in der naturhaft-mythischen Identität von Führung und Volk.
»Volksmeinung« konnte demnach auch nicht als Summe der von den einzelnen Mitgliedern des Volkes vertretenen Auffassungen verstanden werden (das wäre »individualistisch« und »demokratisch« gewesen), sondern lediglich als Momentaufnahme in einem dynamisch voranschreitenden, kollektiven Prozess, in dem das Volk unter Führung
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