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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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die – exakt nicht mehr rekonstruierbare, aber doch vorstellbare – Situation in Betracht ziehen, in der die Informanten solche Äußerungen aufschnappten. Doch wo war ihnen das überhaupt möglich?
    Bezeichnenderweise registrieren die Berichte abweichendes Verhalten (einschließlich kritischer Meinungsäußerungen) vor allem in kirchlichen, gelegentlich auch in bürgerlichen, national-konservativen oder »intellektuellen« Kreisen, manchmal auch unter der Landbevölkerung, jedoch sehr selten unter Angehörigen der zerschlagenen Arbeiterbewegung, also in dem politischen Milieu, aus dem sich der Widerstand gegen den Nationalsozialismus – auch nach Einschätzung des Regimes! – in allererster Linie speiste. Der Grund liegt auf der Hand: Kirchengemeinden oder Orte, an denen Angehörige bürgerlicher, deutsch-nationaler, bildungsbürgerlicher oder ländlicher Kreise verkehrten und sich austauschten – im Zuge kultureller oder gesellschaftlicher Veranstaltungen, auf Vereinstreffen, privaten Festen, Jahrmärkten, in Dorfkneipen et cetera -, waren für die Informanten der Gestapo relativ leicht zugänglich, während die Meinungsbildung in den in den Untergrund abgetauchten sozialistischen Gruppierungen nur noch durch gezielte Unterwanderung erfassbar war und damit in der laufenden Stimmungsberichterstattung nur noch eine untergeordnete Rolle spielte. Auch dieser Umstand wirkt sich in erheblichem Maße verzerrend auf die Berichterstattung aus.
    Drittens: Selbst wenn man unterstellt, dass die Zentralinstanzen zumindest an einem in Rudimenten »authentischen« Bild interessiert waren und dass der mit den Berichten befasste Apparat dazu auch partiell in der Lage war, muss man berücksichtigen, dass die Editoren der Berichte ein erhebliches Eigeninteresse daran hatten, das Material zu manipulieren.
    Partei, staatliche Bürokratie, Polizei und Geheimpolizei waren ja nicht reine Beobachter der »Stimmung«, sondern sie waren als Teile des Herrschaftsapparates auch für die »gute Stimmung« zuständig. Berichteten sie vorgesetzten Dienststellen Negatives, so hatten sie damit implizit die Frage aufgeworfen, was sie denn dagegen zu tun gedächten. Aus diesem Grund standen die Berichterstatter aller Organisationen stets unter dem Druck, vor allem in grundsätzlichen Fragen die Übereinstimmung der Bevölkerung mit der Politik des Regimes zu betonen. Dies gilt auch für die Berichterstattung des SD: Durch seine enge Verklammerung mit der Gestapo (seit 1939 institutionalisiert im RSHA) zugehörig zum Repressionsapparat, war er wie andere Dienststellen stets in Gefahr, sich durch eine zu negative Berichterstattung den Vorwurf der Sabotage der »guten Stimmung« zuzuziehen und sich damit zu isolieren.
    Es konnte allerdings auch im Interesse der berichterstattenden Organisationen liegen, bestimmte negative Tendenzen in der Volksstimmung besonders pointiert herauszustellen. Auf diese Weise ließ sich die Vorgehensweise politischer Kontrahenten wirkungsvoll kritisieren, ohne selbst als Gegenpart auftreten zu müssen. So hatten staatliche und Polizeiorgane beispielsweise ein ureigenes Interesse daran, die negativen Wirkungen ungesetzlicher »Aktionen« der Parteibasis auf die Stimmung der Bevölkerung zu betonen, während Parteidienststellen dazu neigten, eine weitere Radikalisierung der Judenverfolgung als Forderung »des Volkes« auszugeben.
    Da eine öffentliche Meinung fehlte, bot die Stimmungsberichterstattung der verschiedenen Institutionen für einen erheblichen Kreis von Autoren und Lesern in der Staats- und Parteibürokratie ein Forum, in dem man – hinter der Volksstimmung getarnt und in durch die Politik des Regimes gesetzten Grenzen – Maßnahmen des Regimes kommentieren und Auffassungen über die einzuschlagende Politik austauschen konnte. Unter Rekurs auf die Volksstimmung war es beispielsweise möglich, bestimmte Methoden der Verfolgung zu kritisieren; dies war vor allem dann opportun, wenn die eigene Institution nicht dafür verantwortlich war, und die Kritik war umso wirksamer, wenn man gleichzeitig betonte, dass die Bevölkerung die Grundsätze der »Judenpolitik« selbstverständlich in vollem Umfang billige. Vor diesem Hintergrund ist es sehr wahrscheinlich, dass die berichterstattenden Organisationen ihre untergeordneten lokalen und regionalen Dienststellen anhielten, in entsprechender Weise zu berichten, beziehungsweise dass diese in vorauseilendem Gehorsam eine Tendenz »ermittelten«, die den vorgesetzten

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