Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
Vom Netzwerk:
überwundener Sozialmilieus verstand – eine politisch-ideologische Gewichtung, die sich aber in der Sprache der Berichte durchaus ausmachen lässt und den Ansatzpunkt für eine fruchtbare quellenkritische Lesart bietet.
     
    Denn obwohl es offenkundig erscheint, dass die Berichte mehr über die Berichterstatter aussagen als über die deutsche Bevölkerung, sind sie in Bezug auf die Rekonstruktion der seinerzeit in Deutschland vorhandenen Ansichten zur »Judenfrage« nicht wertlos. Sie lassen sich durchaus mit Gewinn lesen, wenn man aus der ausführlichen Quellenkritik, die wir in diesem Kapitel angestellt haben, die notwendigen Schlussfolgerungen zieht und einige Grundregeln bei der Lektüre beachtet. Diese lassen sich wie folgt zusammenfassen:
    Erstens: Wenn die Berichte nichts über kritische Stimmungen berichten, heißt dies nicht, das diese nicht doch vorhanden gewesen sein könnten. Hier gilt die methodische Grundregel, dass man aus dem Schweigen der Quellen nicht einfach weit reichende Schlussfolgerungen ziehen kann.
    Zweitens: Dort, wo die Berichte kontinuierlich eine negative Stimmung melden, erscheint zumindest der Anfangsverdacht gerechtfertigt, dass in der betreffenden Region zu dem betreffenden Zeitpunkt tatsächlich so etwas wie Unzufriedenheit oder gar Oppositionsgeist herrschte.
    Denn wenn die berichtende Behörde oder Dienststelle dort gleichzeitig die Verantwortung für die Aufrechterhaltung der »Stimmung« trug, kann es nicht in ihrem Interesse gelegen haben, über einen längeren Zeitraum Misserfolge zu melden. Es ist natürlich möglich, dass eine Behörde oder Dienststelle kontinuierlich negative Stimmungsberichte erstellte und gleichzeitig die Verantwortung für die »Missstände« einer anderen Organisation zuschieben wollte. So ist etwa vorstellbar, dass der SD durch eine übertriebene Darstellung der schlechten Stimmung Kritik an Partei oder staatlichen Behörden üben wollte oder dass die staatlichen Behörden gezielt negative Reaktionen aus der Bevölkerung meldeten, um »wilde Aktionen« der Partei einzudämmen. Um diesen Verzerrungsfaktor zumindest einschränken zu können, wäre also darauf zu achten, ob solche negativen Meldungen immer von der gleichen Organisation kommen und ob sie im Widerspruch zu Berichten anderer Dienststellen stehen.
    Insbesondere dort, wo die Berichterstattung unterschiedlicher Organisationen über einen längeren Zeitraum im Hinblick auf die Stimmung negativ ausfällt, wird man dem Befund Glauben schenken können. Dies gilt insbesondere dann, wenn solche offiziellen Berichte auch von im Untergrund arbeitenden Netzwerken (etwa dem der Sopade) oder durch andere Quellen bestätigt werden.
    Wenn nach einiger Zeit die Stimmung allerdings wieder als »gefestigt« gemeldet wurde, lässt das nicht notwendigerweise auf einen Meinungsumschwung schließen; es heißt lediglich, dass die Machthaber eingegriffen hatten, um das öffentliche Verhalten der unzufriedenen Bevölkerungsteile wieder mit nationalsozialistischen Normen in Einklang zu bringen, damit abweichendes Verhalten nicht allzu manifest wurde.
    Drittens: Die Tatsache, dass eine Stimmung als »positiv« und regimefreundlich wahrgenommen wurde, bedeutet wohl in erster Linie, dass das Regime in der Lage war, kritische Stimmen wirksam zu unterdrücken und Teile der Bevölkerung zu Manifestationen ihrer Zustimmung zum Regime zu veranlassen: durch Besuch von Parteiveranstaltungen, großzügiges Spendenverhalten, Flaggenhissen et cetera, also durch vom Regime erwünschte, öffentlich geäußerte Gesten der Zustimmung. Da jedoch eine der Hauptbestrebungen des Regimes darin bestand, solche Gesten auf die verschiedenste Weise, vor allem durch die Kleinarbeit des bis in den hintersten Winkel reichenden Funktionärsapparates, herbeizuführen, sagen sie mehr über die Effektivität des Apparates als über die tatsächliche »Stimmung« aus.
     
    Ob die Bevölkerung bestimmten Maßnahmen des Regimes tatsächlich zustimmt, ob die Masse der Bevölkerung innerlich überzeugt von seiner Politik ist, ist für eine terroristische Diktatur sekundär. Es kommt ihr aber darauf an, in der Bevölkerung deutlich zum Ausdruck gebrachtes Unbehagen oder Kritik zum Verstummen zu bringen, um die Geschlossenheit des Volkes nach außen zu dokumentieren. Dies kann durch eine Intensivierung der Propaganda geschehen, vor allem aber mittels Durchdringung und Kontrolle des Alltagslebens, schließlich mit Hilfe repressiver Maßnahmen, notfalls aber

Weitere Kostenlose Bücher