"Davon haben wir nichts gewusst!"
der nationalsozialistischen Bewegung die in seiner »Rassenseele« angelegte Willens- und Bewusstseinsbildung hervorbrachte.
Unterschiedliche Stimmen innerhalb des Volkes konnten aus dieser Perspektive gar nicht als »gleichwertig« wahrgenommen werden. Schon aus diesem Grund wird man in den Stimmungsberichten höchst selten auch nur den Versuch finden, Strömungen in der Volksstimmung in Zahlen zu beschreiben. Oppositionelle Volksstimmung war per definitionem immer entweder eine zeitlich befristete Irrung oder, wenn ihre dauerhafte Existenz nicht zu bestreiten war, auf relativ kleine, »wesensfremde« Gruppierungen am Rande des Volkes beschränkt. Die Ermittlung der Volksmeinung bezweckte nicht, das Terrain oppositioneller Kräfte möglichst exakt zu vermessen; ihr Ziel war vielmehr, diese Oppositionskräfte stets unter dem Gesichtspunkt der angestrebten »Einheit« und »Ganzheit« zu sehen und so einen Beitrag zur Einheitsstiftung zu leisten.
Diese Grundsätze galten natürlich insbesondere für die Einschätzung der »Volksmeinung« in Bezug auf die »Judenfrage«. Nach nationalsozialistischer Auffassung war der Prozess, in dem sich das deutsche Volk seiner eigenen Identität und »Ganzheit« bewusst wurde, vor allem auch ein Befreiungsprozess von »fremdrassigen« Einflüssen, namentlich von dem der Juden. Je weiter diese Befreiung vor sich ging, desto mehr gewann das Volk seine eigene Identität zurück. So wurde in der Berichterstattung selbstverständlich vorausgesetzt, dass es eine »Judenfrage« gebe und dass Juden sich entsprechend antisemitischer Stereotypen verhielten. Die Berichte lieferten in erster Linie die Bestätigung dieser Vorgaben.
Dementsprechend konnte insbesondere die antijüdische Politik nicht wirklich umstritten sein, da sich ihre Gegner außerhalb des Prozesses stellten, in dem das Volk seine eigene Identität zurückgewann: Solche Menschen waren deshalb entweder Volksfeinde, die ausgeschaltet werden mussten, oder einfach retardierende Kräfte, die im Zuge der Identitätsbildung wieder in die »Einheit« eingeschmolzen werden würden.
Abweichende Meinungen und Kritik wurden daher in der Berichterstattung zur Volksmeinung vorwiegend als bruchstückhaft und isoliert, als desorientiertes Gerede oder als ignorantes Verhalten dargestellt, motiviert durch kurzfristige, eigensüchtige Interessen, erklärbar nur durch mangelnde Einsicht in die nationalsozialistische Weltanschauung und starres Festhalten an eigentlich überwundenen Einstellungen, wie sie in christlichen, bürgerlich-intellektuellen oder in sozialistischen Kreisen anzutreffen waren. Oppositionelle Stimmen erhielten in den Berichten gerade nicht den Rang einer mehr oder weniger gut begründeten »Gegenmeinung«. Mehr noch: Die Kompilatoren der Berichte wollten auch verhindern, dass die Berichterstattung selbst zur Plattform oppositioneller Ansichten wurde.
Die Berichte stellen also nicht eine Art von Feldforschung dar, in der negative Reaktionen auf die Politik des Regimes sorgsam beobachtet und evaluiert werden sollten. Sie funktionierten vielmehr als Warnsystem, das etwaige negative Reaktionen in der Bevölkerung lokalisieren sollte, um sie möglichst schnell zum Verschwinden zu bringen. Signalisierten Teile der Bevölkerung durch ihr Alltagsverhalten (etwa in Gesten gegenüber Angehörigen der jüdischen Minderheit), dass sie mit der Politik des Regimes nicht einverstanden waren, dann musste dieses Verhalten mit allen Mitteln wieder an die offiziellen Normen angepasst werden.
Grundsätzlich galt daher, dass eine »positive« Stimmung die natürliche Identität von Volk und Führung zum Ausdruck brachte, negative Stimmungen hingegen Randerscheinungen waren, die den Kern dieser Symbiose nicht betreffen konnten. Die positive Stimmung zeigte die wahre »Haltung« des Volkes, negative Stimmung war nur ein Oberflächenphänomen.
Wir haben dies schon bei der Begründung gesehen, mit der Göring im April 1934 die Berichterstattung durch Polizei und innere Verwaltung einstellte. Ebenso konnte Hitler 1936 seinem Adjutanten Fritz Wiedemann rundheraus erklären, er könne die Stimmung besser einschätzen als die ihm vorgelegten (negativen) Berichte. 74 In seiner Reichstagsrede aus Anlass des Kriegsbeginns am 1. September 1939 ermahnte Hitler die im Reichstag versammelten Funktionäre der Partei: »Keiner meldet mir, dass in seinem Gau oder in seinem Kreis oder in seiner Gruppe oder in seiner Zelle die Stimmung einmal schlecht sein
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