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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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Land, nach Erwerbsart und Wirtschaftsstruktur, Einkommensverhältnissen, Alterausbau sind ebenso zu berücksichtigen wie das Geschlecht der Bevölkerung, die kulturelle, rechtliche und verwaltungsmäßige Struktur, um hierdurch einen für dieses Gebiet repräsentativen Teilausschnitt der Bevölkerungsgesamtheit zu erhalten«. 64 In diesem Sinne rekrutierte der SD vor allem regionale Führungskräfte, um auf diese Weise die einzelnen »Lebensgebiete« abzudecken. 65
    Auch andere berichterstattende Organisationen waren zur Objektivität angehalten worden, so etwa die Regierungs- und Oberpräsidenten durch Frick, als dieser die Berichterstattung an das Reichsinnenministerium einführte, 66 und der Stellvertreter des Führers hatte die Berichterstatter der Partei, wie bereits geschildert, ebenfalls ermahnt, »ungeschminkt« zu berichten.
    Es erscheint jedoch mehr als fraglich, ob man solchen stereotypen Erklärungen und Ermahnungen wirklich irgendeine nennenswerte Bedeutung zumessen kann. Wie wir im weiteren Verlauf dieser Studie sehen werden, entsprachen die Berichte in keiner Weise »sachlichen« Anforderungen. Von der Anwendung uns aus der modernen Meinungsforschung bekannter Arbeitsmethoden konnte erst recht keine Rede sein. Das Problem der Repräsentativität blieb damit ungelöst. Hinzu kommt, dass die Regimespitze Berichten, die eine zu schlechte Stimmung schilderten, mehrfach entgegentrat, ja sie verbot; das kann nicht ohne Auswirkung auf die laufende Berichterstattung geblieben sein. Entscheidend ist aber, dass die Berichterstatter von einer Wahrnehmung der Wirklichkeit ausgingen, die durch die offizielle Ideologie des Nationalsozialismus geprägt war. Dies gilt insbesondere bei der Behandlung zweier in unserem Zusammenhang zentraler Kategorien: der »Judenfrage« und der Vorstellung vom »Volk«, worauf noch eingegangen wird.
    Zweitens: Die Berichterstatter konnten und wollten unter den geschilderten Entstehungsbedingungen gar keine Einstellungen messen, sondern in erster Linie Verhaltensweisen .
    Die Berichterstatter verstanden Einstellungen (also das, was die Menschen wirklich dachten) nicht als unabhängige Größe. Vielmehr versuchten sie, aus den Reaktionen der Bevölkerung auf Maßnahmen des Regimes Rückschlüsse auf deren Ansichten zu ziehen. Im Hinblick auf regimekritische Stimmen ist entscheidend, dass die Berichte lediglich registrieren konnten, inwieweit sich abweichendes Verhalten unter den repressiven Bedingungen der Diktatur äußerte. Dazu standen den Berichterstattern grundsätzlich zwei Möglichkeiten zur Verfügung. Sie konnten zum einen erfassen, inwieweit die Bevölkerung bereit war, durch ihr alltägliches Verhalten die Dominanz der Partei anzuerkennen: etwa durch den Besuch von Parteiveranstaltungen, durch Spendenfreudigkeit bei Sammlungen, Grußverhalten (»Heil Hitler« oder »Guten Tag«), Abonnieren der Parteiblätter et cetera. Zum anderen konnten sie kritische Stellungnahmen aufzeichnen. Die aber wurden wie erwähnt unter den Bedingungen der Diktatur allenfalls im halböffentlichen Rahmen geäußert.
    Bei der Durchsicht der Berichte wird deutlich, dass die Informanten bereits ab 1935 immer größere Schwierigkeiten hatten, die Meinungsbildung in solchen halböffentlichen Situationen oder noch existierenden, nicht völlig von den Nationalsozialisten gleichgeschalteten Milieustrukturen auszukundschaften. Die Informanten mussten feststellen, dass immer weniger Menschen sich trauten, in Gesprächen mit Unbekannten Risiken einzugehen. Die Meinungsbildung zog sich ins Private zurück. Wo Kritik noch laut wurde, wurde sie in eine Form gekleidet, die aus der Sicht des Regimes noch gerade akzeptabel schien. Es schien den Menschen offensichtlich gefahrloser zu sein, judenfeindliche Maßnahmen wegen ihrer volkswirtschaftlich destruktiven Wirkung oder wegen der befürchteten negativen Wirkungen auf Auslandsdeutsche zu kritisieren, als etwa Grundsätze der nationalsozialistischen Rassenlehre infrage zu stellen oder offen Mitleid oder Sympathie mit den Verfolgten zu bekunden. Mit anderen Worten: Eine Meinungsäußerung in einer halböffentlichen Situation, bei der der Sprecher sich nicht absolut sicher sein konnte, dass die Vertraulichkeit gesichert war, bringt in erster Linie eine Verhaltensweise, nicht eine Einstellung zum Ausdruck. Der Sprecher verhält sich so, dass das Gesagte nicht als Fundamentalopposition gegen das Regime verstanden werden kann.
    Eine Interpretation der Berichte muss also

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