"Davon haben wir nichts gewusst!"
habe demnach für die Mehrheit der Deutschen keine Rolle gespielt. 26 Verstünde man (wie Kershaw) demgegenüber unter Indifferenz einfach nur Desinteresse, würde man, so Kulka, dem Phänomen in seiner Komplexität nicht gerecht: Tatsächlich sei die Einstellung, dass die »Judenfrage« irgendwie gelöst werden müsse, ebenso weit verbreitet gewesen wie die Haltung, man könne es dem Regime überlassen, die Art und Weise dieser »Lösung« zu bestimmen. 27
Indifferenz, so spitzen Kulka und Rodrigue schließlich das Argument entscheidend zu, sei demnach in Wahrheit »passive Komplizenschaft« gewesen. 28 Beide haben damit die Mitverantwortung der deutschen Bevölkerung für den Holocaust auf eine Weise betont, die einige Jahre später durch Daniel Goldhagen mit seiner These von den »willigen Vollstreckern« und dem »eliminatorischen Antisemitismus« der Deutschen wieder aufgegriffen und weiter ausgearbeitet wurde. 29 Allerdings bleibt die These von Kulka/Rodrigue weitgehend spekulativ: Sie beruht in erster Linie auf einer sehr extensiven Interpretation des Schweigens, das in den Quellen zur Reaktion auf den Holocaust vorherrscht.
Ian Kershaw hat auf die Kritik Kulkas und Rodrigues in einem weiteren Aufsatz, der auf einer erheblich breiteren Quellenbasis als seine früheren Beiträge beruht, geantwortet. 30 Mit guten Gründen stellt er hier klar, dass seiner Ansicht nach die Schlussfolgerung, die »Indifferenz« der deutschen Bevölkerung sei Ausdruck passiver Komplizenschaft, überzogen ist. 31 Kershaw hält nichts davon, die von ihm als schlichtes Desinteresse an Juden charakterisierte »Depersonalisierung« nun, wie von Kulka/ Rodrigue vorgeschlagen, als Internalisierung eines durch die Propaganda abstrakt vorgebrachten Vernichtungsgedankens zu verstehen. 32 Vielmehr seien der weit verbreitete latente Antisemitismus und das Fehlen einer in der Gesellschaft verankerten, organisierten Abwehr des Antisemitismus vor 1933 dafür verantwortlich, dass die antisemitische Politik des Regimes sich auf eine fast unaufhaltsame Weise radikalisieren konnte. 33
David Bankiers Studie über die »öffentliche Meinung« und die »Endlösung« hat zunächst einmal den Vorzug, dass sie auf einer bis dahin nicht erreichten breiten Quellengrundlage beruht. 34 Bankier konnte sich nicht nur auf die damals noch unveröffentlichte, allerdings seither weiterhin ergänzte Sammlung Kulkas stützen, sondern auch auf zahlreiche weitere Quellen unterschiedlichster Provenienz: zum großen Teil Stellungnahmen von Einzelpersonen aus (teilweise unveröffentlichten) Memoiren, Tagebüchern, Briefen, vor allem aber aus den Akten des britischen Foreign Office, das abgefangene Briefe auswertete und Interviews mit Flüchtlingen und aus Deutschland zurückkommenden Reisenden führte. Viele dieser Äußerungen, die Bankier durch seine Pionierarbeit erstmals für die Forschung erschlossen hat, werden auch in diesem Buch herangezogen werden.
Grundsätzlich steht aber auch Bankier vor dem Problem, dass namentlich die Quellen zur Informiertheit und Einstellung der deutschen Bevölkerung bezüglich der »Endlösung« spärlich und zum Teil erheblich interpretierbar sind. Er ist daher in seinen allgemeinen Schlussfolgerungen auch entsprechend vorsichtig und abwägend. Bankier betont insgesamt – trotz weit verbreiteter Unzufriedenheit – die »breite und grundsätzliche Zustimmung« der Bevölkerung zur Politik des Regimes. 35 Dennoch sei »die Behandlung der Judenfrage, wenn auch nicht der Antisemitismus selbst, zu einem Reibungspunkt zwischen den dynamischvitalistischen Elementen des Nationalsozialismus und den nationalistisch-konservativen Elitegruppen« geworden. Der »Konsens, die Juden aus Deutschland loszuwerden«, sei dabei jedoch nicht in Frage gestellt worden. Die Differenzen hätten sich vielmehr an den ergriffenen Maßnahmen entzündet. »Insgesamt scheint es, als seien die kritischen Reaktionen auf die antisemitische Politik durch persönliche Verärgerungen und Verteidigung von Interessen veranlasst worden, nicht aber durch humanitäre Rücksichten.« 36
Auf der Grundlage der vorliegenden Zeugnisse sei eindeutig klar, »dass weite Kreise der deutschen Bevölkerung, darunter Juden ebenso wie Nichtjuden, entweder gewusst oder geahnt haben, was in Polen und Russland vor sich ging«. 37 Während die Kenntnis von Massenerschießungen weit verbreitet war, sickerten über die Vernichtungslager relativ wenig konkrete Informationen durch. 38 Dass
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