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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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für die seinerzeit greifbaren Informationen über den Mord an den Juden zusammengetragen und mit weit verbreiteten Abwehr- und Verdrängungsmechanismen angesichts dieses Themas kontrastiert. 50
    Frank Bajohr weist in einem Aufsatz über die Reaktion der deutschen Bevölkerung auf die Deportationen auf das generell große Interesse hin, das die Massenverschleppungen auf örtlicher Ebene auslösten. 51 Die Tatsache, dass viele Menschen sich angesichts der Deportationen öffentlich weder positiv noch negativ äußerten, könne auf stillschweigendes Einverständnis, Gleichgültigkeit oder auch »verlegene Distanz« hindeuten, eine möglicherweise mehrdeutige Verhaltensweise, die mit dem Ausdruck »Indifferenz« nur inadäquat erfasst werde. 52 Die Einstellung der Bevölkerung zu den Deportationen habe zwischen »aktiver Zustimmung, unauffälliger Zurückhaltung und kritischer Distanz« geschwankt. 53 Der Konsens zwischen Regime und Bevölkerung in der »Judenfrage« sei nach 1938/39 »langsam erodiert«, die von der Propaganda aufgestellte Parole, man habe mit der »Endlösung« der »Judenfrage« alle Brücken hinter sich abgebrochen, habe nicht, wie vom Regime erwartet, zu fanatischem Widerstand bis zuletzt geführt. Sie sei jedoch auch nicht ohne Wirkung geblieben: Das »sichtbar schlechte Gewissen« in Teilen der Bevölkerung sei Ausdruck eines Gefühls, man habe »eine Grenze überschritten«, die eine »Rückkehr zum Status quo ante« nicht mehr erlaubte. 54
    Hans Mommsen und Dieter Obst betonen wiederum die Indifferenz der allgemeinen Bevölkerung gegenüber der »Judenfrage«. 55 Zwar habe man gewalttätige Aktionen gegen die Juden, wie etwa die »Reichskristallnacht«, 56 abgelehnt, jedoch vor allem deshalb, weil man die Beschädigung »arischer« Interessen befürchtet habe. Da die Mehrheit den Antisemitismus prinzipiell nicht missbilligte, habe das Regime die Juden erfolgreich isolieren können. 57 Während des Krieges habe die Bevölkerung der »Judenfrage« trotz teilweise intensiver antijüdischer Propaganda kaum noch Aufmerksamkeit geschenkt. 58 Die Missbilligung der Kennzeichnung im Herbst 1941 und die gemischten Reaktionen auf die Deportationen zeigten jedoch, dass das Regime die Wirkung der antisemitischen Indoktrination der Bevölkerung überschätzt habe. 59
    Dass die Erörterung der Genozidfrage – die Exekutionen in Osteuropa waren weithin bekannt – nach dem Leichenfund von Katyn im Frühjahr 1943 in der Öffentlichkeit völlig zurückgetreten sei, liegt nach Ansicht der Autoren daran, dass »die Bevölkerung von der Bewältigung der immer stärker den individuellen Lebensbereich erfassenden Kriegseinwirkungen weitgehend absorbiert war«. Hinzu komme eine »fatalistische Abstumpfung«. 60 Insgesamt könne man von einer »kollektiven Verdrängung des Genozids« sprechen, 61 obwohl ein »dumpfes Bewusstsein des Unrechts« weit verbreitet gewesen sei. Ähnlich wie David Bankier kommen Mommsen und Obst zu dem Schluss, dass die Mehrheit durch die Hinnahme der Deportationen beziehungsweise durch Zustimmung zu schweigenden Komplizen eines – allerdings in seinen wahren Dimensionen nur ungefähr erahnten – Verbrechens geworden sei. 62
    Weitere Arbeiten haben speziell die Reaktionen der Bevölkerung auf die »Kristallnacht« untersucht und übereinstimmend die weitgehende Ablehnung der Gewalttaten hervorgehoben. 63 Seit einigen Jahren wird zudem das Thema der antisemitischen Gewalt unter dem NS-Regime untersucht. Verschiedene Autoren haben darauf aufmerksam gemacht, dass der Gewalttaten verübende nationalsozialistische Mob einen erheblichen Teil der männlichen Bevölkerung repräsentierte und dass insbesondere Jugendliche dazu neigten, sich an solchen von Parteiaktivisten organisierten Gewalttaten zu beteiligen beziehungsweise ihnen offen zuzustimmen. 64 Daneben liegt eine große Zahl von meist regional oder thematisch ausgerichteten Editionen und Studien zur Stimmungsberichterstattung in der NS-Diktatur vor. 65
    Angesichts dieser zum Teil weit auseinander klaffenden Befunde und relativ großen Forschungslücken stellt sich die Frage nach den dokumentarischen, methodischen und begrifflichen Grundlagen des bis dato erreichten Forschungsstandes. Offensichtlich ist, dass die meisten der hier behandelten Arbeiten vor allem auf den Stimmungs- und Lageberichten beruhen, die durch verschiedene Dienststellen des NS-Regimes erstellt wurden. Und die meisten Autorinnen und Autoren gehen davon aus, dass diese

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