"Davon haben wir nichts gewusst!"
Staatsbürgers gegenüber seinem jüdischen Nachbarn auf«, eine Auffassung, die sich vor allem auf die geringe Zahl von Berichten stützt, die sich hinsichtlich der Reaktionen der deutschen Bevölkerung auf die Judenverfolgung finden lassen. 11 Diese Gleichgültigkeit zeigte sich jedoch nicht nur in Apathie angesichts des jüdischen Schicksals, sondern auch in weitgehender Ablehnung gegenüber den Versuchen der NS-Propaganda, den Judenhass hochzuspielen. 12 Die ausgeprägte Indifferenz der Bevölkerungsmehrheit führt Steinert unter anderem auf die Tatsache zurück, dass nur noch wenige Deutsche direkte Kontakte zu Juden hatten; man war in erster Linie mit den eigenen Problemen angesichts des Krieges beschäftigt. 13 Neben der breiten Schicht der Indifferenten, Verhetzten und Zustimmenden sieht Steinert eine kleine Gruppe, die sich aktiv an der Verfolgung beteiligte, und eine zahlenmäßig nicht allzu große Schicht von Menschen, die sich schämten, jedoch nichts unternahmen. Nur sehr wenige Menschen halfen den Verfolgten aktiv. 14
Was nun das Wissen über die »Endlösung« anbelangt, so ist für Steinert klar, dass für viele Soldaten im Osten die Erschießungen nicht geheim bleiben konnten. Durch Urlauber drangen solche Informationen nach Deutschland. 15 Ab Sommer 1943, so Steinert, finde man kaum noch Hinweise darauf, wie die Bevölkerung auf die Verfolgung reagierte. 16 Steinert konstatiert, dass »in Deutschland selbst nur ganz wenige über das ungeheure Ausmaß der Verbrechen Bescheid wussten, dass die Propaganda viele Gemüter umnebelt hatte, dass es auch eine große Zahl Ahnungsloser gab. […] Gerüchte, Gerede, Andeutungen über Massenerschießungen waren für zahlreiche Menschen außerdem Vorstellungen, die sich rationalem Begreifen entzogen.« 17
Ian Kershaw 18 kommt – nach einer eingehenden Untersuchung der antisemitischen Kampagne des Jahres 1935, des Pogroms vom November 1938 und der Phase der Deportation und Massenmorde – zu der Schlussfolgerung, dass die Verfolgung der Juden ein breites Spektrum von Reaktionen hervorgerufen habe: Die Masse der Bevölkerung, geprägt durch antisemitische Vorurteile und mehr oder weniger beeinflusst von der NS-Propaganda, habe gesetzliche Beschränkungen für Juden befürwortet, Gewaltexzesse jedoch abgelehnt. Paranoide Judenhasser seien ebenso in der Minderheit gewesen wie diejenigen, die aus christlichen oder liberalhumanitären Motiven den nationalsozialistischen Rassismus abgelehnt hätten.
Das Hauptziel der NS-Propaganda, die Bevölkerung zu leidenschaftlichem Hass gegen Juden aufzustacheln, sei fehlgeschlagen. Von wenigen Phasen abgesehen, in denen die »Judenfrage« ganz im Vordergrund gestanden habe, sei die Masse der Bevölkerung an diesem Thema nicht interessiert gewesen. Aber gerade in dieser durch Desinteresse und Apathie geprägten Atmosphäre konnte nach Kershaw der radikale Antisemitismus der kleinen Minderheit gedeihen. Es sei dem Regime gelungen, die Juden im breiten Bewusstsein der Bevölkerung zu depersonalisieren.
Innerhalb der NS-Bewegung habe der Antisemitismus mit Sicherheit integrierend gewirkt, für die Beziehung zwischen Volk und Regierung gelte dies jedoch nicht. Hier sei in erster Linie die Attraktivität der vom Regime propagierten »Volksgemeinschaft« – die Vorstellung einer scheinbar sicheren sozialen, politischen und moralischen Ordnung – ausschlaggebend gewesen. Die permanente Radikalisierung der antijüdischen Politik könne daher kaum das Ergebnis populärer Forderungen gewesen sein. In der »Judenfrage« habe das Regime nicht mit einem plebiszitären Mandat, sondern zunehmend autonom gehandelt. Die Geheimhaltung der »Endlösung« sei der wichtigste Beleg dafür, dass das Regime sich darüber auch im Klaren war.
Der schrittweise Ausschluss der Juden aus der Gesellschaft, die Zustimmung weiter Kreise der Bevölkerung zu diesen Maßnahmen, die Dehumanisierung, latente antisemitische Vorurteile und weit verbreitete Indifferenz gegenüber dem Schicksal der Juden seien jedoch wichtige Voraussetzungen für die »Endlösung« gewesen: Sie hätten den radikal-antisemitischen Elementen die notwendige Autonomie verschafft, um die »Endlösung« durchzusetzen. Sarah Gordon bestätigte einige Jahre später Kershaws Befund einer in der Bevölkerung vorherrschenden Indifferenz gegenüber der »Judenfrage«. 19
Otto Dov Kulka konnte bereits Anfang der achtziger Jahre auf eine weit umfassendere Sammlung von offiziellen Stimmungs-
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