"Davon haben wir nichts gewusst!"
jedoch unterschiedliche Gerüchte über Morde mit Hilfe von Gas kursierten, zeige, dass es ein weit verbreitetes Bedürfnis gegeben habe, den Mangel an Informationen durch eigene Vorstellungen zu ersetzen. 39 Wegen der monströsen und beispiellosen Dimension des Verbrechens hätten allerdings selbst Gegner des Regimes vorhandene Informationen kaum zu einem Gesamtbild zusammensetzen können. 40
Bankiers Schlussfolgerung lautet: »Die Politik der Deportationen und der Massenmorde konnte vonstatten gehen, weil die Öffentlichkeit kein Empfinden mit dem Schicksal der Juden zeigte. Ja, es ist wahr: Während der Kriegszeit blieben die, welche eine andere Meinung vertraten, wegen der Angst vor dem Staatsterror rein passiv; die Verhärtung der Haltungen verwischte die moralischen Grenzen; die soziale Vereinzelung machte eine kollektive Reaktion von vornherein unmöglich. Aber es ist ebenso wahr, dass bei den meisten Deutschen, wegen ihrer ›traditionell‹ antisemitischen Haltung, aus der heraus sie die Judenverfolgung nicht prinzipiell ablehnten, die Widerstandskraft gegen die Maschinerie des Völkermords sehr gering gewesen ist.« Um sein Gewissen zu beschwichtigen, habe man Informationen zu verdrängen versucht, um Schuldgefühle nicht aufkommen zu lassen, habe man die »Flucht ins Private und ins Nichtwissen« ergriffen. 41
Das Paradox 42 zwischen der Geheimhaltung des Vernichtungsprogramms und der Tatsache, dass unter anderem führende Nationalsozialisten durchaus öffentlich auf den im Gang befindlichen Massenmord hinwiesen, löst Bankier mit der These, das Regime habe auf diese Weise versucht, die allgemeine Bevölkerung in die Verantwortung für das Verbrechen mit einzubeziehen, um so Ängste vor Rache und Vergeltung zur Aufstachelung eines fanatischen Widerstandswillens zu nutzen. 43 Aus eben diesem Grund habe sich die verstärkte antisemitische Propaganda jedoch seit Ende 1941, vor allem aber seit 1943 als kontraproduktiv erwiesen: Aus Angst, nach Kriegsende von den Siegern kollektiv zur Rechenschaft gezogen zu werden, sei die Bevölkerung mehr und mehr vom offiziell verkündeten Antisemitismus abgerückt.
Die weitgehende Indifferenz der Bevölkerung gegenüber der Verfolgung erklärt Bankier somit – im Unterschied zu Kershaw oder Kulka – nicht mit Gleichgültigkeit oder schweigender Zustimmung, sondern aus dem Unwillen der Menschen, »ihre Beteiligung am Begehen von Unrecht zuzugeben«. Man habe sich selbst eingeredet, als angeblich Unwissende gegen Vergeltung und Rache gefeit zu sein. 44
Robert Gellately befasst sich ebenfalls mit der – seiner Ansicht nach überwiegend zustimmenden – Reaktion der deutschen Bevölkerung auf Repression und Terror des NS-Regimes und kommt in diesem Zusammenhang auch auf die öffentliche Darstellung und die Wahrnehmung der Judenverfolgung zu sprechen. Gellately weist dabei auf die Bedeutung einer wichtigen Quelle hin, die Historiker bisher erstaunlicherweise weitgehend vernachlässigt haben: die in NS-Deutschland erschienenen Zeitungen. 45
Eric Johnson beschäftigt sich in seinem Buch über den nationalsozialistischen Terror – einer Regionalstudie, die sehr stark auf die Kooperation zwischen Behörden und Bevölkerung abstellt – in größerem Umfang mit der Judenverfolgung; 46 dabei behandelt er in einem Überblickskapitel die Reaktionen der deutschen Bevölkerung auf die Judenverfolgung und lenkt darin unter anderem den Blick auf die alliierten Rundfunksendungen als Informationsquelle zu diesem Thema.
Neben weiteren Überblicken und einer Reihe von älteren Arbeiten, die durch neuere Studien als überholt gelten können, 47 behandelt eine Reihe von Aufsätzen wesentliche Aspekte der Frage nach der Einstellung der deutschen Bevölkerung gegenüber der Judenverfolgung. Werner Angress hat anhand amtlicher Berichte zur »Judenfrage« aus dem Jahre 1935 die Konfliktlage zwischen NSDAP-Anhängern der »Einzelaktionen« und den Beamten herausgearbeitet; diese, obwohl antisemitisch eingestellt, seien in erster Linie an der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung interessiert gewesen. 48 Ursula Büttner betont in einer Arbeit, die sich hauptsächlich auf die Zeit vor Beginn der Deportationen bezieht, das Verhalten der Deutschen im Hinblick auf die Verfolgungsmaßnahmen sei vor allem durch »Gleichgültigkeit, beflissenes oder überzeugtes Mittun, selten Anteilnahme und Hilfsbereitschaft« gekennzeichnet gewesen. 49 Volker Ullrich hat in einem Überblick zahlreiche Beispiele
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