"Davon haben wir nichts gewusst!"
Stimmungs- und Lageberichte ein mehr oder weniger authentisches Bild der tatsächlichen Einstellung der Bevölkerung vermitteln, wobei zum Teil eine Reihe von weiteren Quellen – in unterschiedlichem Umfang – als Kontrollmaterial herangezogen wird.
Die Ermittlung der »Stimmung« durch Partei- und Staatsdienststellen habe dabei dem Zweck gedient, der Führung ein objektives Bild der Volksmeinung zu vermitteln, das in den politischen Entscheidungsprozess eingeflossen sei. Nach dieser Auffassung – sie entspricht im Übrigen dem Bild, das der Gründer des SD-Inlandsnachrichtendienstes, Otto Ohlendorf, in seinen Nachkriegsaussagen entwarf 66 – handelt es sich also bei der Berichterstattung zur Stimmung grundsätzlich um eine (wenn auch nur rudimentäre) Frühform der Demoskopie. 67
Selbstverständlich sind sich die Forscher, die diese Ansicht vertreten – zu ihnen gehören neben Otto Dov Kulka etwa Heinz Boberach und David Bankier -, darüber im Klaren, dass diese frühe »Meinungsforschung« gravierende methodische Defizite aufweist, die zu erheblichen Verzerrungen in der Berichterstattung geführt haben, und sie konzidieren in unterschiedlichem Umfang, dass die Stimmungsberichterstattung auch anderen, nicht auf die Erstellung eines objektiven Meinungsbildes gerichteten Zielsetzungen unterlag. Trotzdem halten sie die Stimmungsberichterstattung für mehr oder weniger »zuverlässig«. 68
Ian Kershaw betrachtet diese Frage grundsätzlich kritischer. Seiner Meinung nach bildeten die Stimmungsberichte »fast ausschließlich die ereignisbezogene Meinungsäußerung und Stimmung der Bevölkerung, nicht die Meinungsbildung aufgrund der allgemeinen und permanenten Propaganda- oder Schulungsaktivität des NS-Regimes« ab. Daher lasse sich auf Basis dieser Quellenkategorie »fast keine Feststellung treffen, wie die in Zeitungen, Versammlungen oder auf anderem Wege betriebene antisemitsche Propaganda nach 1933 von der Bevölkerung aufgenommen wurde«. 69 Auch Franz Dröge weist in seiner Untersuchung über die Gerüchtebildung im Zweiten Weltkrieg auf die Kontextabhängigkeit der Stimmungsberichterstattung hin: So sei etwa die Gestapo an der »Stimmung« nur insoweit interessiert gewesen, »als sie von Gegnergruppen bestimmt oder beeinflusst zu sein erscheint oder zu werden droht«. 70
Kershaw wirft außerdem die Frage auf, ob die Berichte nicht grundsätzlich ein schöngefärbtes Bild der »Stimmung« wiedergeben, da viele Bürger kritische Äußerungen aus Angst unterdrückt hätten und bei den Berichterstattern möglicherweise die Tendenz im Vordergrund gestanden habe, ihre Vorgesetzten mit »positiven« Berichten zu versorgen. Grundsätzlich seien »positive« Berichte schwieriger zu interpretieren als solche, in denen Kritik unmittelbar wiedergegeben wird. 71 Auch Frank Bajohr bezweifelt die »Objektivität« der Berichte, da sie sich durchgängig »regimespezifischer Sprachregelungen und -muster« bedienten, eigene Perspektiven und politische Intentionen in die Berichterstattung einbrachten und – vor allem auf höhere Ebene – zu »Tabuisierung« und »Schönfärberei« neigten. 72
Ohne objektiven Maßstab, an dem sich die subjektiv eingefärbten Berichte messen ließen, so räumt Kershaw ein, seien die interpretatorischen Probleme in einem methodisch strengen Sinne auch nicht lösbar. Weiterhelfen könnten Vergleiche unterschiedlicher Quellenkategorien, aber letzten Endes bleibe nichts anderes übrig, als sich bei der Interpretation auf die Vertrautheit des Historikers mit dem Gesamtmaterial zu verlassen sowie auf seine Fähigkeit, zwischen den Zeilen zu lesen. 73
Mir scheint, dass man in dieser kritischen Sichtweise des Materials noch einen Schritt weitergehen sollte als Kershaw und andere Forscher. Alle der hier vorgestellten Autoren gehen nämlich von der Annahme aus, dass es auch unter dem NS-Regime so etwas wie eine »öffentliche Meinung«, eine »Volksmeinung«, wie Kershaw es nennt, oder eine »Publikumsmeinung« (Marlis Steinert) 74 gegeben habe, dass also auch unter den Bedingungen der Diktatur umfassende, kollektive Meinungsbildungsprozesse vonstatten gingen. Tatsächlich wissen wir aber viel zu wenig darüber, wie sich überhaupt kollektive Stimmungen, Meinungen und Einstellungen unter der Diktatur bildeten, und wir haben die methodischen Schwierigkeiten, solche Vorgänge retrospektiv zu messen, bisher zu wenig diskutiert.
Unabdingbare Voraussetzung für eine Analyse des uns vorliegenden,
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