"Davon haben wir nichts gewusst!"
und Lageberichten zurückgreifen als Ian Kershaw; insbesondere standen ihm damals in großem Umfang Gestapo-Berichte aus dem Institut für Marxismus-Leninismus in Ost-Berlin zur Verfügung, die erst seit 1990 im Bundesarchiv allgemein zugänglich sind.
In seiner Auswertung der Reaktion der deutschen Bevölkerung auf die Nürnberger Gesetze entwickelte Kulka eine Typologie von vier verschiedenen Reaktionen auf die Judenverfolgung, die sich seiner Auffassung nach auf die gesamte Zeit bis 1939 anwenden lässt: 20 Erstens Akzeptanz von Segregation und Diskriminierung aus rassistischen Gründen als dauerhafte Grundlage zur »Lösung der Judenfrage«; die Zustimmung zur »Judenpolitik« des Regimes war demnach an strikte Einhaltung gesetzlicher Grundlagen gebunden. Zweitens Bedenken, Kritik, ja sogar Opposition gegen die Rassengesetze sowie gegen die gesamte »Judenpolitik«, vor allem aber gegen »wilde Aktionen« aus politischen, religiösen, aber auch pragmatischen Motiven; Furcht vor ökonomischer Vergeltung gegen Deutschland mochte beispielsweise eine Rolle spielen. Drittens Kritik an der offiziellen antijüdischen Politik als zu moderat, verbunden mit dem Versuch, die antisemitische Politik durch direkte Aktionen weiter zu radikalisieren. Antijüdische Gesetze wurden aus dieser Perspektive vor allem als Ermächtigung zu einer weiteren Verschärfung der Judenverfolgung verstanden. Viertens Indifferenz und Passivität, ohne dass sich aus den Quellen eine Begründung für diese Haltung entnehmen ließe.
In einem weiteren Aufsatz, den er zusammen mit seinem Kollegen Aron Rodrigue verfasste, kritisiert Kulka denn auch Kershaws Gebrauch der Begriffe Indifferenz und Depersonalisierung. Für beide Autoren ist klar, dass die Nürnberger Gesetze keineswegs mit überwiegender Indifferenz hingenommen worden seien; vielmehr sei der in den Berichten zum Ausdruck kommende, wachsende Druck aus der Partei, der Bevölkerung und den Eliten wesentlich für die Entscheidung gewesen, die antijüdischen Gesetze zu erlassen. 21 Ob die in den Berichten angegebenen pragmatischen Begründungen für die Kritik an der »Judenpolitik« des Regimes zutrafen oder nur vorgeschoben waren, um moralische Kritik zu tarnen, spielt nach Ansicht von Kulka/Rodrigue keine Rolle. Wichtig sei vielmehr, dass diese pragmatischen Argumente – die Tendenz, die »Judenfrage« zu »depersonalisieren« – in den Berichten vorherrschend waren und damit den politischen Entscheidungsprozess mit geformt hätten. 22
Kulka betrachtet die Radikalisierung des politischen Entscheidungsprozesses durch die Stimmungsberichterstattung als fortlaufenden Prozess, der auch in der Phase der »Endlösung« nicht zum Stillstand gekommen sei. Die Berichte sind demnach für ihn auch ein wichtiges Zeugnis für die Mitverantwortung breiter Bevölkerungskreise für den Entschluss zum Völkermord. 23 Mehr noch: Dass in der Phase der »Endlösung« in den Berichten Existenz, Verfolgung und Vernichtung der Juden so gut wie nicht vorkommen, wertet Kulka in einem weiteren Beitrag als Beleg für seine These einer »nationalen, stillschweigenden Verschwörung«. Sofern die Bevölkerung überhaupt auf die »Endlösung« reagiert habe, beschränke sich dies entweder auf eine rein passive Beobachtung der Deportationen oder auf präzise Beobachtungen und Kommentare zum Schicksal der Deportierten und der antijüdischen Politik des Regimes – dies gelte insbesondere für die ersten Monate des Jahres 1943. 24 Schockierend sei vor allem, dass, abgesehen von einigen Ausnahmen, Kritik an dem Mordprozess nicht mit moralischen Argumenten vorgetragen wurde, sondern lediglich mit instrumentellen und pragmatischen Begründungen; dabei habe die Befürchtung, man könne selbst für den Massenmord zur Rechenschaft gezogen werden, im Vordergrund gestanden.
Zu dieser »pragmatischen« Einstellung passe das große Interesse der Bevölkerung an der Übernahme so genannter Judenwohnungen; dass die Menschen gleichzeitig eher desinteressiert auf die scharf-antisemitische Propaganda des Regimes reagiert hätten, zeige, dass die vom Regime geforderte »Lösung der Judenfrage« im Bewusstein der Bevölkerungsmehrheit verankert gewesen sei, noch bevor die eigentlichen Morde begonnen hätten. 25
Die »Indifferenz« wird hier also als Konsens der Mehrheit mit dem Ziel der »Vernichtung« interpretiert: wie diese »Vernichtung« konkret aussah, ob damit Emigration, Segregation, Deportation oder Massenmord gemeint war,
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