Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
Vom Netzwerk:
bei der Entfachung und Ausweitung der Krawalle im Jahre 1935 gespielt hatte, ist der Unterschied beträchtlich.
    Auf die Berliner Aktion folgten im Juni, Juli und August weitere Ausschreitungen von Parteianhängern in anderen Städten des Reiches, so etwa in Magdeburg, in Stuttgart und in Hannover. In Frankfurt am Main nahm die Polizei im Juni uniformierte Parteifunktionäre fest, die vor jüdischen Geschäften »Posten standen«. In München und Nürnberg ordneten die Kommunalbehörden im Juni beziehungsweise August den Abbruch der Hauptsynagogen an. 86 Im Juli 1938 wurden an verschiedenen Orten jüdische Friedhöfe geschändet. 87 Im selben Monat intensivierte die Parteipresse erneut ihre antisemitische Propaganda, nahm sie während der Sudetenkrise im September deutlich zurück, um sie im Oktober wiederum zu steigern. 88
    In diesen Monaten vor dem Novemberpogrom rückte – neben der fortlaufenden Berichterstattung über die diversen antijüdischen Maßnahmen des Regimes 89 – die Palästina-Frage wieder ins Zentrum der Berichterstattung. Die Betonung lag dabei auf dem »Blutterror« der Juden. 90
    Am 8. Juli machte sich Partei-Chefideologe Alfred Rosenberg aus Anlass der internationalen Konferenz in Evian, auf der über das durch die deutsche Politik aufgeworfene jüdische Flüchtlingsproblem beraten wurde, einige »Gedanken«, die er auf der Titelseite des Völkischen Beobachters unter dem Titel »Wohin mit den Juden?« veröffentlichte. Rosenberg beschäftigte sich mit der seiner Ansicht nach überall wachsenden antisemitischen Bewegung und stellte dann fest: »Vor den Augen jener Staaten aber, die so warm den Schutz Israels auf ihr Panier geschrieben haben, erhebt sich das Problem, ob sie mit der Zeit etwa sechs bis acht Millionen aufzunehmen gewillt erscheinen.« Im Folgenden diskutierte Rosenberg mögliche Lösungen für das »Problem« und kam zu folgenden Schlussfolgerungen. Erstens: »Palästina scheidet als großes Auswanderungszentrum aus.« Zweitens: »Die Staaten der Welt sehen sich nicht in der Lage, die Juden Europas aufzunehmen.« Drittens: »Es muss also nach einem geschlossenen, von Europäern noch nicht besiedelten Gebiet Umschau gehalten werden.« Viertens: »Bliebe noch die Möglichkeit: die Sowjetunion.«
    Einige Tage später schrieb Rosenberg erneut einen groß aufgemachten Kommentar für die Titelseite des Völkischen Beobachters , in dem er – unter dem Titel »In den Händen von Nichtariern liegt das Leben von Millionen« – die angebliche Behauptung einer jüdischen Zeitschrift aus den USA aufgriff, die jüdischen Politiker Léon Blum (Frankreich), Maxim Maximowitsch Litwinow (UdSSR) und Leslie Hore-Belisha (Großbritannien) hätten sich zur »Vernichtung Deutschlands« zusammengeschlossen. 91
    Daneben widmete die Parteipresse den antijüdischen Maßnahmen, die die faschistische Regierung Italiens seit dem Juli 1938 verhängte, viel Aufmerksamkeit. In einem grundsätzlichen Kommentar im Völkischen Beobachter hob der Leiter des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP, Walter Groß, die dadurch hergestellte grundsätzliche Übereinstimmung beider Länder in der »Rassenfrage« und insbesondere in der »Judenfrage« hervor. 92 Im Oktober ging es um Maßnahmen, die die Prager Regierung unter deutschem Druck gegen jüdische Emigranten einleitete, 93 und um antisemitische Bestrebungen im slowakischen Gebiet der ˇSR. 94
    Auch in der nichtnationalsozialistischen Presse spielten die Vorgänge im faschistischen Italien eine große Rolle, 95 während die antijüdischen Maßnahmen in der tschechoslowakischen Republik weit weniger beachtet wurden 96 und die Berichterstattung über Palästina meist wesentlich nüchterner als in der Parteipresse ausfiel. 97 Eine Ausnahme stellt in dieser Hinsicht jedoch die Deutsche Allgemeine Zeitung dar, die im gleichen Tonfall wie die Parteipresse über den »jüdischen Terror« in Palästina berichtete. 98 Der stark antisemitische Rosenberg-Artikel aus dem Völkischen Beobachter vom 17. Juli – »In den Händen von Nichtariern liegt das Leben von Millionen« – wurde in einer ganzen Reihe nichtnationalsozialistischer Zeitungen nachgedruckt. 99
    Wie stark sich ein Teil der nichtnationalsozialistischen Presse bereits dem NS-Jargon angenähert hatte, soll anhand einiger Beispiele aus der Zeit unmittelbar vor dem Novemberpogrom verdeutlicht werden. Die Berliner Börsenzeitung etwa behauptete in einer Serie über Südafrika, es »beherrscht heute der Jude das gesamte

Weitere Kostenlose Bücher