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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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drohende Kriegsgefahr verantwortlich gemacht wurden.
    Die zahlreichen Berichte über die »Stimmung der Bevölkerung gegen die Judenschaft«, die sich »unter dem Eindruck der außenpolitischen Entwicklung verschärft« habe, 119 die Empörung über das angeblich »provozierende« und »freche« jüdische Verhalten 120 in diesen Monaten spiegeln in Wirklichkeit diese Frontstellung radikaler Parteianhänger gegenüber dem »inneren Feind« wider. Die feindselige Stimmung führte im September und verstärkt im Oktober – nachdem mit dem Abschluss des Münchner Abkommens die unmittelbare Kriegsgefahr beseitigt war – zu gesteigerter Gewalttätigkeit gegenüber Juden, jüdischen Einrichtungen und jüdischem Besitz: »Vorkommnisse, die spontan aus dem Willen der Gesamtbevölkerung entstehen«, wie der Regierungspräsident der Pfalz glauben machen wollte. 121
    In mindestens einem Dutzend Orten wurden Synagogen durch Anschläge verwüstet oder erheblich beschädigt, 122 Juden wurden geschlagen und gedemütigt, Fensterscheiben in Wohnungen und Geschäften eingeworfen, jüdische Geschäfte mit Parolen beschmiert. 123 Aus einigen Orten wurden die ansässigen Juden regelrecht vertrieben, insbesondere im fränkischen Raum, in Württemberg und in der Pfalz. 124
    In einem Fall lassen sich die Ereignisse genauer rekonstruieren und die Organisatoren der Vertreibung eindeutig zuordnen. Der Regierungspräsident von Ober- und Mittelfranken meldete, es mache sich in Folge der »Mord- und Gräueltaten an Sudetendeutschen in der Tschechoslowakei […] in der Marktgemeinde Bechhofen, BA 125 Feuchtwangen, und in Wilhermsdorf, BA Neustadt a.d.Aisch, eine große Empörung gegen die dort wohnhaften Juden geltend. Die Juden haben daraufhin Bechhofen und Wilhermsdorf verlassen.« 126 Ein detaillierter Bericht des SD-Oberabschnitts München über die Ereignisse in Bechhofen macht jedoch deutlich, von wem diese »Empörung« ausging: Danach war die Aktion von »Angehörigen der Gliederungen der Partei […] in Zivil« durchgeführt worden. 127 Der gleiche SD-Bericht weist ausdrücklich darauf hin, die »Art und Weise der Durchführung dieser Maßnahme« habe bei der Bevölkerung »ungeheure Empörung« hervorgerufen.
    Besonders gravierende Ausmaße erreichten die antisemitischen Ausschreitungen in Wien. Die Wiener Parteiorganisation versuchte seit Oktober, die einheimischen Juden durch systematische Anwendung von Gewalt aus der Stadt zu vertreiben. Der Lageberichterstattung des SD für Oktober 1938 ist zu entnehmen, dass in der Nacht zum 5. Oktober (dem jüdischen Versöhnungsfest) in mehreren Bezirken der Stadt Juden »durch Amtswalter der Partei zur sofortigen Räumung ihrer Wohnungen aufgefordert« wurden. »In fast allen Häusern wurden Plakate angebracht, nach denen die Juden spätestens am 10.10.38 aus den Bezirken zu verschwinden hätten.« Seit Mitte Oktober häuften sich außerdem Anschläge auf Synagogen und jüdische Einrichtungen. Erpressung, Raub und Gewaltanwendung gegen jüdische Bürger waren ein weit verbreitetes Phänomen. Anfang November befand sich Wien bereits in einem gleitenden Übergang zum Pogrom. 128
    Auch der Lagebericht der Judenabteilung des SD-Hauptamts hielt für Oktober 1938 fest, dass diese »Aktionen gegen die jüdische Bevölkerung […] im Süden und Südwesten des Reiches teilweise pogromartigen Charakter annahmen«. 129 Weiter heißt es: »Dabei wurden in zahlreichen Städten und Ortschaften die Synagogen zerstört oder in Brand gesteckt und die Fenster jüdischer Geschäfte und Wohnungen zerschlagen. Im Gau Franken und in Württemberg wurden die Juden einzelner Ortschaften z.T. durch die Bevölkerung gezwungen, ihren Wohnsitz sofort unter Mitnahme des Nötigsten zu verlassen.« Im folgenden Satz macht der Bericht jedoch deutlich, was man unter »der Bevölkerung« verstand: »Diese von den Ortsgruppen oder Kreisleitern angeregten und von den Gliederungen der Partei durchgeführten Aktionen hatten zumeist rein örtlichen Charakter. Dabei konnte festgestellt werden, dass die katholische Bevölkerung zumeist die Art des Vorgehens missbilligte.«
    Der Kommentar der Judenabteilung des SD zu der aufkeimenden Pogromstimmung bei einem Teil der Parteiaktivisten, Ende Oktober 1938 verfasst, wirft bereits ein Schlaglicht auf die Einstellung dieser Kreise im Herbst 1938: »Es muss jedoch hinzugefügt werden, dass Aktionen gegen die jüdische Bevölkerung zum Teil auch daraus entstanden sind, dass die Parteiangehörigen

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