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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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nun ebenfalls verstärkt Juden festgenommen wurden: Allein in Berlin waren es weit über tausend.
    Die Berliner Aktion, aus Goebbels’ Sicht ein Probelauf für den im November 1938 stattfindenden reichsweiten Pogrom, wurde jedoch durch persönliches Eingreifen Hitlers am 22. Juni abgebrochen: Ganz offensichtlich entwickelte sich das negative Auslandsecho zu einer Belastung für das Regime. Auf der Sonnenwendfeier der Berliner Parteiorganisation hielt Goebbels erneut eine antisemitische Brandrede, kündigte aber an, die entsprechenden Maßnahmen würden auf gesetzlichem Wege erfolgen. 76
    Die Berliner Aktion, die von der internationalen Presse mit großer Aufmerksamkeit verfolgte wurde, 77 fiel in einen Zeitraum, in dem die außenpolitischen Spannungen wegen der von NS-Deutschland forciert vorangetriebenen »Lösung« der Sudetenfrage zunahmen und zu einer massiven internationalen Krise um die in ihrer Existenz bedrohte Tschechoslowakei führten. 78 Das Propagandaministerium reagierte und erließ seit dem 17. Juni detaillierte Richtlinien für die Presse, mit deren Hilfe die Berichterstattung über die Berliner Krawalle äußerst rigide gesteuert wurde.
    Am 17. Juni hieß es auf der Pressekonferenz: »In der ausländischen Presse werde von Verhaftungen von Juden und antijüdischen Demonstrationen in Berlin berichtet. Tatsächlich hätten auch neben Verhaftungen im Rahmen der üblichen Fahndungsaktionen Demonstrationen stattgefunden, die dadurch begründet seien, dass aus allen Teilen des Reichs, besonders aber aus Österreich fortwährend Juden nach Berlin zuwanderten, die hier deutschen Volksgenossen Wohnungen und so weiter wegnehmen. Im Rahmen der Demonstrationen seien auch Inschutzhaftnahmen von Juden vorgenommen worden. Alles dies gebe jedoch der deutschen Presse keine Veranlassung, sich damit zu beschäftigen.« 79
    Am 18. Juni kündigte der Sprecher des Propagandaministeriums eine Notiz des Deutschen Nachrichtenbüros über die Festnahme von Juden an und gab dazu folgende Anweisung: »Verhaftungen aus politischen Gründen seien in Berlin in keinem Falle erfolgt. Einige Juden hätten zu ihrem persönlichen Schutz in Haft genommen werden müssen, weil die Berliner Bevölkerung über den ständigen Zuzug der Juden erregt sei.« 80 Die Presse gab diese Anweisung in ihrer Berichterstattung zum Teil wörtlich wieder. 81
    Am 20. Juni hieß es auf der Pressekonferenz: »Über die ›Judenverfolgung‹ in Berlin und im Reiche berichtet das Ausland nach wie vor in größter Aufmachung. Die Gründe für diese Ereignisse seien bekannt: Die Bevölkerung sei erregt über die ›Emigration‹ der Juden nach Berlin, wo mehrere Tausend in den letzten Monaten zugezogen seien. Sie hätten geglaubt, in der Großstadt eher untertauchen zu können. Es seien zahlreiche neue jüdische Geschäfte eröffnet worden, vorhandene hätten erweitert werden können. Eine allgemeine Lauheit sei gegenüber der Judenfrage unverkennbar, besonders was den Kauf bei Juden angehe. Dies seien die Gründe, die zu einer spontanen Aktion geführt hätten.« 82
    Am 22. Juni wurde die Rede, die Goebbels am Vortag auf der Sonnenwendfeier der Berliner Parteiorganisation gehalten hatte, zur »Kommentierung empfohlen«, verbunden mit der »Bitte«, »die Judenfrage aufzugreifen. Dabei ist zu betonen, dass Einzelaktionen jetzt nicht mehr am Platz sind, ohne dass man aber die bisher geschehenen Einzelaktionen verurteilt oder von ihnen abrückt. Jetzt greift der Staat ein: Die jüdischen Geschäfte werden gekennzeichnet.« Lediglich »zur Information« wies der Sprecher des Propagandaministeriums darauf hin, es seien »tatsächlich auch einige Plünderungen vorgekommen, wobei aber schärfstens eingegriffen wird; im Schnellverfahren werden einige Plünderer abgeurteilt werden. Ohne das Eingeständnis der Plünderungen kann man vielleicht jetzt schon in den Kommentaren ganz allgemein von Plünderungen abrücken.« 83
    Die Parteipresse reduzierte im Juni ihre antisemitische Polemik tatsächlich erheblich 84 und verzichtete darauf, die Berliner Ereignisse als Startsignal für eine neue antisemitische Kampagne zu nutzen. Auch die übrige Presse ging nur kurz darauf ein. Die Ausschreitungen der Parteianhänger fanden wenn, nur in Andeutungen statt, über die Polizeirazzien wurde meist recht knapp, teilweise mit deutlicher Verspätung und mit widersprüchlichen Zahlenangaben berichtet. 85 Vergleicht man diese Haltung mit der aktiven Rolle, die vor allem die Parteipresse

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