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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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Regimes wird deutlich, dass die Bevölkerung auch im Jahre 1938 – trotz entsprechender Propaganda und erheblichen Drucks seitens der Partei – nicht bereit war, geschäftliche Kontakte mit Juden vollkommen aufzugeben. Behörden aus allen Teilen des Reiches bemängelten, nach wie vor tätigten jüdische Händler, insbesondere Viehhändler, eifrig Geschäfte mit der ländlichen Bevölkerung; 113 jüdische Geschäfte würden nach wie vor frequentiert. 114
    Der Chef der Sicherheitspolizei zeigte sich im Februar 1938 höchst alarmiert über Erhebungen des Gauwirtschaftsberaters der Berliner NSDAP, wonach »arische« Einzelhändler »heute noch für etwa 400 Millionen Reichsmark Bekleidungswaren vom nichtarischen Konfektionsgewerbe« bezögen, was zur Folge habe, dass »12 bis 15 Millionen deutscher Volksgenossen ahnungslos Mäntel, Anzüge, Kleider usw. tragen, die von Juden geliefert sind«. 115 Auch andere Firmen, so geht aus den Berichten hervor, unterhielten weiterhin Geschäftsbeziehungen zu Juden oder ließen sich im Ausland durch jüdische Repräsentanten vertreten. 116
    Außerdem finden sich immer wieder Hinweise darauf, dass in Teilen der Bevölkerung das Verständnis für den vom Regime propagierten rassischen Antisemitismus unterentwickelt war. 117 Auffällig ist jedoch, dass sich die antisemitischen Ausschreitungen vom Frühjahr und Sommer 1938 in den erhaltenen Berichten praktisch nicht als die Stimmung beeinflussender Faktor niederschlagen: Folgt man den Berichten (oder besser gesagt: ihrem Schweigen in diesem Punkt), so scheint die Bevölkerung den Übergriffen vom Frühjahr und Sommer 1938 – ganz im Gegensatz zu den Unruhen von 1935 und den Exzessen, die während der »Kristallnacht« begangen werden sollten – teilnahmslos gegenübergestanden zu haben, ein Eindruck, der durch den Tenor der Sopade-Berichte bestätigt wird.
    Eine Erklärung für diese scheinbare »Indifferenz« könnte darin liegen, dass es den Parteiaktivisten nicht gelang, die Ausschreitungen zu einer groß angelegten, reichsweiten antisemitischen Kampagne zu verdichten, wie dies 1935 geschehen war und nach dem 9. November 1938 erneut geschehen sollte. Ohne massive Unterstützung durch die Parteipresse, die phasenweise zur relativen Zurückhaltung in der »Judenfrage« gezwungen war, ließ sich aus den örtlich auflodernden Unruhen kein Flächenbrand entfachen. Was aber in der nationalsozialistisch kontrollierten Öffentlichkeit keine Beachtung fand, was in der offiziellen Sicht der Dinge gar nicht (oder nur ganz am Rande) stattfand, das griffen die offiziellen Berichte auch nicht als einen die »Stimmung« beeinflussenden Faktor auf.
    Hinzu kommt, dass bei den Ausschreitungen im Frühjahr und Frühsommer 1938 die Spannungen zwischen den verschiedenen Akteuren im Rahmen blieben. Das Vorgehen von Polizei und Partei scheint nun – wie das Berliner Beispiel zeigte – enger koordiniert worden zu sein, als dies noch 1935 der Fall gewesen war, und offenbar konnten die Polizeibehörden, insbesondere nach Hitlers Machtwort zur Beendigung der Berliner Aktion vom Juni 1938, die Ausschreitungen relativ leicht beenden, wenn sie es für notwendig hielten. Und im Unterschied zu 1935 musste die Parteiführung den Parteiaktivisten nicht mehr langwierig auseinandersetzen, dass Verbote wirklich Verbote bedeuteten. Mit anderen Worten: Weder staatliche Stellen noch der Parteiapparat hatten diesmal Veranlassung, die negative »Volksstimmung« ins Spiel zu bringen, um unerwünschte antijüdische Ausschreitungen einzudämmen oder illegale Aktionen der Parteiaktivisten zu unterbinden. Was auf den ersten Blick wie »Indifferenz« der Bevölkerung aussieht, könnte demnach vor allem darauf zurückzuführen sein, dass die antijüdischen Maßnahmen im Frühjahr und Sommer 1938 erstens weitgehend im Konsens der beteiligten Partei- und Staatsstellen und zweitens ohne direkte Appelle der Presse zu antijüdischen Aktionen durchgeführt wurden.

Herbst 1938: Im Übergang zum Pogrom
    Die Berichterstattung für den September 1938 steht ganz unter dem Eindruck der verbreiteten Befürchtung, die Sudetenkrise werde in einen Krieg mit den Westmächten münden. Der Monatsbericht der Judenabteilung des SD-Hauptamts für September 1938 spricht offen von einer »Kriegspychose« der Bevölkerung. 118 Diese depressive Stimmung, das zeigt eine Reihe von Berichten deutlich, suchte sich ein Ventil: Radikale Parteianhänger wollten »Rache« an den Juden nehmen, die für die

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