Days of Blood and Starlight
Volk zeigen oder unsichtbar bleiben sollte.
Was erwartete ihn in Eretz?
Wenn seine Geschwister ihn als Verräter bloßgestellt hatten, dann würden ihn die Wachen sofort festnehmen – oder es zumindest versuchen. Akiva wollte nicht glauben, dass Hazael und Liraz dazu fähig wären, aber er erinnerte sich nur zu gut an die durchdringenden Blicke, mit denen sie ihn bei ihrer letzten Begegnung gemustert hatten: an Liraz’ Wut über seinen Treuebruch, an Hazaels stumme Verachtung.
Eine Gefangennahme konnte er nicht riskieren. Er wurde heimgesucht von einem anderen letzten Blick, noch durchdringender und noch nicht lange zurückliegend.
Karou.
Vor zwei Tagen hatte sie ihn in Marokko verlassen, mit einem letzten Blick über die Schulter, der so weh tat, dass Akiva fast wünschte, sie hätte ihn stattdessen umgebracht. Ihr Kummer war nicht einmal das Schlimmste gewesen. Es war ihre Hoffnung, die ihm das Herz brach, ihre trotzige, aussichtslose Hoffnung, dass das, was er ihr gesagt hatte, nicht wahr sein konnte. Denn er wusste mit absoluter, purer Hoffnungslosigkeit, dass es stimmte.
Die Chimären waren vernichtet. Ihre Familie war tot.
Und er war schuld daran.
Seine Niedertracht zerfraß ihn, er spürte jeden Biss tief in seiner Seele; die reißenden Zähne, die Schuld, die tief in seinem Innern an ihm fraß, die grauenhafte Wahrheit dessen, was er ihr angetan hatte. Vielleicht stand Karou gerade in diesem Moment knöcheltief in der Asche ihres Volkes, völlig allein, umgeben von den rauchgeschwärzten Ruinen von Loramendi. Oder schlimmer noch: Vielleicht war sie zusammen mit diesem Scheusal, Razgut, dem Gefallenen, der sie nach Eretz geführt hatte – und was würde dann mit ihr passieren?
Er hätte ihnen folgen sollen. Karou wusste nicht, was sie erwartete. Die Welt, in die sie zurückkehrte, war nicht die Welt aus ihrer Erinnerung. Sie würde in Eretz weder Hilfe noch Trost finden – nur Asche und Engel. In den früheren freien Bezirken wimmelte es von Seraphim-Patrouillen, die letzten überlebenden Chimären waren in Ketten gelegt und wurden von den Peitschen der Sklavenhändler nach Norden getrieben. Man würde sie entdecken – wie könnte man das Mädchen mit den lapislazuliblauen Haaren, das ohne Flügel über den Himmel schoss, übersehen? Sie würde gefangen genommen oder getötet werden.
Akiva musste sie finden, bevor es jemand anderes tat.
Razgut hatte behauptet, er würde ein Portal nach Eretz kennen, und angesichts dessen, was er war – einer der Gefallenen, ein Seraph, der vor tausend Jahren von den Engeln verstoßen worden war – stimmte das wahrscheinlich sogar. Akiva hatte zuerst versucht, die Spur der beiden in Marokko aufzunehmen, aber als er damit keinen Erfolg hatte, war ihm nichts anderes übriggeblieben, als das Portal aufzusuchen, das er selbst wiederentdeckt hatte – das Portal, das er jetzt vor sich sah. In der Zeit, die er mit seinem Flug über Berge und Ozeane verschwendet hatte, konnte alles Mögliche passiert sein.
Er entschied sich für die Unsichtbarkeit. Erst mal. Sie kostete ihn nichts, was er nicht sowieso bezahlte. Der Preis für Magie war Schmerz, und dank seiner alten Verletzung hatte er davon mehr als genug. Er konnte ihn einfach nehmen und gegen die Magie eintauschen, die er brauchte, um sich aus der Luft zu löschen.
Dann kehrte er nach Hause zurück.
Der Übergang von der einen in die andere Welt geschah beinahe unmerklich. Die Berge hier sahen fast genauso aus wie die Berge dort. Der einzige Unterschied war, dass in der Menschenwelt die Lichter von Samarkand am Horizont geschimmert hatten. Hier war keine Stadt zu sehen, nur ein Wachturm auf einer Bergspitze, zwei Seraphim-Wachen, die hinter der Brüstungsmauer auf und ab marschierten, und am Himmel das Wahrzeichen von Eretz: zwei Monde, der eine strahlend hell, der andere geisterhaft blass.
Nitid, die helle Mondschwester, war die Chimärengöttin über fast alles – alles außer Mördern und heimlich Liebenden. Die fielen Ellai zu.
Ellai. Bei ihrem Anblick wurde Akiva nervös. Ich kenne dich, Engel, schien sie zu flüstern, denn hatte er nicht einen Monat lang in ihrem Tempel gelebt, aus ihrer heiligen Quelle getrunken und sogar sein Blut dort vergossen, als der Weiße Wolf, der General der Chimären, ihn fast getötet hätte?
Die Göttin der Mörder hat mein Blut gekostet, dachte er und fragte sich, ob sie wohl auf den Geschmack gekommen war und mehr wollte.
Hilf mir, Karou zu beschützen, und du kannst
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