Dead End: Thriller (German Edition)
Universität jedes Jahr wahrscheinlich zwei Selbstmorde passieren. Aber in den letzten fünf Jahren hatten wir zwanzig. Doppelt so viele, wie man erwarten dürfte.«
»Und diese Fälle sind alle von der Kriminalpolizei untersucht worden?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort bereits kannte.
Evi nickte. »Ja. Und hier fängt mein Argument an, auf ein wenig schwachen Füßen zu stehen, es waren nämlich alles Fälle wie aus dem Lehrbuch.«
»Inwiefern?«
»Die Hälfte der Betroffenen war wegen Depressionen oder ähnlichen Störungen in Behandlung. Bei fünf weiteren waren in der Vergangenheit Depressionen, Angstzustände oder stressbedingte Probleme aufgetreten.«
»Und Depressionen sind bei Selbstmord ein häufiger Faktor«, meinte ich. »Bis jetzt steht Ihr Fall nicht nur auf schwachen Füßen, er ist so gut wie nicht existent.«
Das hatte ich scherzhaft gemeint. Ich glaube, ich hatte insgeheim darauf gehofft, sie zum Lächeln zu bringen und selbst ein bisschen runterzukommen. Ich konnte mich weiß Gott nicht entspannen, wenn sie so verkrampft war. »Was ist mit Nicole Holt? Der Letzten?«, erkundigte ich mich, nachdem ich den Versuch aufgegeben hatte, ihr ein Lächeln zu entlocken.
»Sie war keine Patientin von uns«, antwortete Evi. »Bisher weiß ich nur sehr wenig über sie.«
»Die Obduktion ist schon gelaufen?«, wollte ich wissen.
Evi nickte. »Irgendwann heute im Laufe des Tages. Aber die Ergebnisse werden erst nach der gerichtsmedizinischen Anhörung veröffentlicht, und das kann noch Monate dauern.«
»Sie war ein hübsches Mädchen«, meinte ich und dachte an das Foto, das ich auf diversen Internetseiten gesehen hatte. Nicole war groß und schlank gewesen, mit langem dunklen Haar und großen Augen. Bryony war ebenfalls attraktiv gewesen. »Sind hübsche Frauen anfälliger für selbstmörderisches Verhalten?«, fragte ich.
»Meines Wissens nach nicht«, erwiderte Evi. »Ich würde meinen, hübsch zu sein spricht eher dagegen, Sie nicht?«
»Bryony Carter hat geglaubt, sie würde vergewaltigt«, sagte ich. »Fällt Ihnen dazu was ein?«
Evi schaute rasch auf ihre Unterlagen hinab und schürzte die Lippen, als denke sie scharf nach. Die Art und Weise, wie sich ihr Kopf bewegte, hatte etwas faszinierend Anmutiges. Sie erinnerte mich an eine Ballerina. »Bryony hat sich nachts in ihrem Zimmer nicht sicher gefühlt«, sagte sie. »Sie hat gesagt, sie hätte mehrmals ungewöhnliche Träume gehabt, in denen sexuelle Gewalt vorkam, und wenn sie am nächsten Tag aufgewacht sei, hätte sie sich gefühlt, als hätte jemand Sex mit ihr gehabt.«
»Ihre Kollegin hat ihr nicht geglaubt«, bemerkte ich.
Wieder senkte Evi den Blick. »Auf jeden Fall hätte sie sich nicht anmerken lassen dürfen, dass sie ihr nicht glaubt«, sagte sie. »Aber nach dem, was sie hier in ihren Unterlagen notiert hat, glaube ich, Sie könnten recht haben.«
»Was, glauben Sie, läuft hier?«, fragte ich.
Evi überlegte einen Moment lang und schien in ihrem Stuhl zusammenzusacken. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Aber mir macht da einiges zu schaffen. Das Erste ist, dass bei den zwanzig Selbstmorden in den letzten fünf Jahren Frauen gegenüber Männern ungefähr fünf zu eins in der Mehrheit sind.«
»Laut Statistik müsste es andersherum sein«, meinte ich.
»Genau. Das Zweite, was mir Sorgen macht, ist …« Sie hielt inne und furchte die Stirn, dachte kurz nach. »Nun ja«, fuhr sie fort, »die Originalität und die Varianz der angewandten Methoden. Wir haben Sprünge von hohen Gebäuden, Selbstverbrennung, selbst zugefügte Stichverletzungen, Selbstenthauptung. Es ist, als würden sie darum wetteifern, wer den bizarrsten Abgang hinlegen kann. Es würde mich nicht überraschen, wenn’s da irgendwo eine Website gibt, auf der Punkte von eins bis zehn vergeben werden.«
Jetzt machte sie Witze, um die Spannung zu lösen. Das Ganze machte sie genauso nervös wie mich.
»Und die Methoden sind einfach untypisch«, fuhr Evi fort. »Wenn Frauen sich das Leben nehmen, suchen sie sich die gewaltfreieste Methode aus. Am häufigsten ist eine Überdosis. Nicht sehr zuverlässig natürlich, aber trotzdem scheuen Frauen vor extremer Gewalt zurück. Dass sich jemand in einem heißen Bad die Pulsadern aufschneidet, kommt auch oft vor, aber trotzdem …«
Ihr Blick fiel auf mein Handgelenk, auf die hässliche Narbe, die noch immer unter einem Pflaster verborgen war. Ich wartete auf die Frage, die nicht kam.
»Selbstverbrennung.«
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