Dead End: Thriller (German Edition)
Sie schüttelte den Kopf. »Das gibt’s in unserer Kultur so gut wie nie. Und dieses arme Mädchen da am Sonntagmorgen. Wer in aller Welt kommt denn auf so was?«
Ein ziemlich gestörter Mensch, dachte ich. Und davon sind mir schon einige untergekommen.
»Sie haben eine Website erwähnt«, sagte ich. »Ich habe gehört, Sie denken, dass es da vielleicht eine Subkultur gibt, die zu selbstzerstörerischem Verhalten anstachelt.«
»Bei Selbstmord-Websites reicht das Spektrum von gut gemeint, aber fehlgeleitet bis zu regelrecht blutrünstig«, meinte Evi. »Ich fürchte, irgend so etwas ist hier im Gange. Ich kann nur keinen Beweis dafür finden.«
»Sie haben schon gesucht?«
»Mehrmals. Es gibt Internetseiten und Intranet-Seiten und Blogs und Chatrooms und Tweets ohne Ende, alle über das Leben in Cambridge. Da draußen schwebt praktisch eine virtuelle Stadt und eine virtuelle Uni über der echten. Aber alle Sites, die ich finden konnte, sind einigermaßen harmlos. Ich verstehe nicht besonders viel von Computertechnologie, aber ich denke trotzdem, dass da irgendetwas vorgeht, an das ich nicht rankommen konnte. Ich habe gehört, Ihre IT -Kenntnisse wären gut.«
»Jedenfalls nicht schlecht«, erwiderte ich.
Evi warf einen raschen Blick auf die Uhr und dann auf ihren Bildschirm. »Draußen wartet eine Patientin auf mich«, sagte sie, ehe sie sich wieder zu mir umwandte. »Okay, Sie sind Studentin, Sie sind dreiundzwanzig, haben vor zwei Jahren ihr Studium begonnen, mussten aber wegen gesundheitlicher Probleme auf halbem Weg zum Diplom abbrechen«, fasste sie meine Coverstory zusammen. »Sie haben schon früher unter Depressionen und Angstzuständen gelitten und nehmen seit achtzehn Monaten Medikamente. Das ist alles hier in meinem Computersystem in Ihrer Krankenakte vermerkt. Ich habe Sie in mein Psychologie-Programm aufgenommen, weil ich Ihre bisherigen Studienleistungen sehr vielversprechend fand. Außerdem beschäftige ich Sie inoffiziell stundenweise als Hiwi bei ein paar Recherchen. So wird sich niemand wundern, dass wir Zeit miteinander verbringen. Sie haben meine verschiedenen Telefonnummern, wenn Sie mich erreichen müssen, egal wann?«
Ich dankte ihr und bestätigte, dass ich die Nummern hatte.
Sie betrachtete mich stirnrunzelnd. »Laura Farrow«, sagte sie. »Das ist nicht Ihr richtiger Name, nicht wahr?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Dürfen Sie mir sagen, wie Sie wirklich heißen?«
Ich lächelte; ich konnte nicht anders. Das hatte ich noch nie jemandem gesagt. Lacey Flint war ebenso wenig mein richtiger Name wie Laura Farrow. »Lieber nicht«, antwortete ich, so wie man mich angewiesen hatte. »Das hilft, Fehler zu vermeiden.«
Als ich aufstand, nickte sie vage, und ich hatte das Gefühl, dass es ihr eigentlich auch egal war. Für sie war ich ein Mittel zum Zweck. Dann verblüffte sie mich.
»Dana hat gesagt, Sie seien außergewöhnlich«, bemerkte sie.
Ich wartete, verharrte auf halbem Weg zwischen ihrem Schreibtisch und der Tür und wusste nicht recht, was ich darauf antworten sollte. Als außergewöhnlich war ich noch nie bezeichnet worden. »Außerdem hat sie gesagt, Sie hätten schwierige sechs Monate hinter sich«, fuhr sie fort, ohne den Blick von ihrem Schreibtisch zu wenden. »Ich habe die Angewohnheit, zu viel von anderen Menschen zu verlangen, Laura. Lassen Sie nicht zu, dass ich das mit Ihnen mache.«
20
Das Rebhuhn hatte den Schatten des Raubvogels über sich vielleicht gesehen. Vielleicht hatte es den Luftzug gespürt, als der Falke herabstieß. Vielleicht hatte es sogar den Bruchteil einer Sekunde Zeit gehabt, dem Tod ins Auge zu sehen und guten Tag zu sagen, ehe starke Klauen zupackten und es töteten. Der Falkner bezweifelte es. Er hatte selten erlebt, dass eine Beute so schnell geschlagen wurde.
Die beiden Vögel, Jäger und Beute, gerieten hinter einer Hecke außer Sicht, und der Falkner beschleunigte seine Schritte. Merry, der ältere und verlässlichere seiner beiden Pointer, trottete voraus und führte ihn geradewegs zu der Stelle, wo der starke, gekrümmte Schnabel des Falken das Rebhuhn bereits zerriss. Der Mann bückte sich und hob den Raubvogel hoch, bevor er ein Messer hervorzog und dem Rebhuhn den Kopf abschnitte. Er gab ihn dem Sieger.
Während der Falke fraß, schaute der Mann, der manchmal töricht genug war, sich einzureden, dass der Vogel sein Eigentum war, zum wirbelnden grauen Himmel hinauf, wo sich die oberste Wolkenschicht gerade zu dem satten, tiefen
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