Dead End: Thriller (German Edition)
tragen.«
Evi brauchte einen Moment, um ihren Ärger zu verbergen. Die meisten Menschen hätten dergleichen als Witz abgetan. Jessica, die unter Essstörungen litt, seit sie zwölf war, und die als Teenager zweimal in eine Klinik eingewiesen worden war, nachdem sie unter achtunddreißig Kilo gewogen hatte, würde so etwas alles andere als komisch finden.
»Haben Sie den Diebstahl gemeldet?«, wollte sie wissen.
»Ja. Eins von den anderen Mädchen hat gesagt, ich soll das machen, und sie ist mit mir zur Polizei gegangen. Die haben gesagt, bei einem Studentenstreich könnten sie nicht eingreifen.«
»Woanders wäre so was Einbruch und massive Einschüchterung«, bemerkte Evi. »In einem Cambridge-College ist es ein harmloser Streich.«
»Wissen Sie noch, diese Website, von der ich Ihnen erzählt habe? Die, auf der die Fotos von mir waren?«
»Ja«, sagte Evi. »Ich habe versucht, sie zu finden. Keine von den Suchmaschinen, die ich benutzt habe, konnte sie aufspüren.«
Jessica bückte sich und zog einen Laptop aus ihrer Tasche. »Ich zeig sie Ihnen.« Sie klappte den Computer auf und schaltete ihn ein. Nach ein paar Sekunden tippte sie etwas ein, wartete noch eine Weile und drehte den Bildschirm dann zu Evi herum.
Evi streckte die Hand aus und nahm den Laptop entgegen, kippte ihn so, dass sie die Bilder deutlich sehen konnte. Es war eine Facebook-Parodie. Wer hat sich diese Woche mal wieder die Torte reingezogen? lautete die Zeile direkt über etlichen Fotos von Jessica.
Nur war das da nicht Jessica. Jessica war ein außergewöhnlich hübsches Mädchen, deren Figur zwischen modelschlank – wenn es ihr gut ging und sie glücklich war – und schmerzhaft dünn schwankte, wenn das nicht der Fall war. Auf den Fotos hatte irgendjemand Jessicas zarte Gestalt digital verändert, so dass sie gewaltig war. Sämtliche Fotos waren Nacktaufnahmen. Alle zeigten geradezu rubenssche Proportionen, feiste Bäuche, pralle Gesäßbacken mit Grübchen und riesige, hängende Brüste. Sie hatten es sogar geschafft, Jessicas Gesicht fetter aussehen zu lassen.
Seltsamerweise waren die Bilder gar nicht unattraktiv, aber für Jessica musste das sein, als sähe sie sich in ein Ungeheuer verwandelt. Und die Bilder standen auf einer Internetseite, wo alle Welt sie sehen konnte.
»Wie haben Sie diese Seite noch mal gefunden?«, fragte Evi. »Hat Ihnen jemand davon erzählt?«
»Der Link ist einen Abends aufgetaucht, als ich gearbeitet habe«, sagte Jessica. »Ich hab draufgeklickt, ohne nachzudenken.«
Evi machte sich eine Notiz, der Polizistin von der Website zu erzählen. »Haben Sie eine Ahnung, wer dahinterstecken könnte?«
Jessica schüttelte den Kopf. »Nein«, antwortete sie. »Alle, denen ich davon erzählt habe, finden die Bilder ätzend.«
»Das finde ich auch«, sagte Evi. »Nein, nicht die Fotos sind ätzend, denn selbst wenn Sie so dick wären wie das Mädchen auf diesen Bildern, wären Sie trotzdem schön – ich weiß, das glauben Sie mir nicht, aber es stimmt. Sie sind ätzend, weil sie gemacht worden sind, um Sie zu quälen.«
Tränen rannen über Jessicas Wangen.
»Ich habe das Gefühl, jeder hat die gesehen«, stammelte sie. »Wenn ich zu einer Vorlesung gehe oder zu einem Seminar, sogar in eine Kneipe oder zum Essen, dann hab ich das Gefühl, alle flüstern, wie fett ich bin. Sogar im Schlaf kann ich sie hören.«
»Schlafen Sie immer noch nicht gut?«
Jessica schüttelte den Kopf. »Wissen Sie noch, wie ich Ihnen von der Nacht erzählt habe, als andauernd mein Handy geklingelt hat, jede halbe Stunde, bis ich es ausgemacht habe?«
»Ja, das weiß ich noch«, antwortete Evi. »Sie haben nicht rausgefunden, wer das war?«
»Nein«, sagte Jessica. »Und jetzt kann ich es immer noch klingeln hören, obwohl ich es ausmache, wenn ich ins Bett gehe.«
»Ich verstehe nicht.«
»Ich wache jede Nacht ein paarmal auf, weil ich denke, ich hätte mein Handy gehört. Hab ich aber nicht, weil es ja aus ist. Ich träume, dass es mich aufweckt, also tut es das auch.«
»Wie lange geht das schon so?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Ein paar Wochen«, sagte sie. »Aber wenn’s nicht das Telefon ist, sind es die Stimmen.«
»Stimmen?«
»In meinen Träumen. Die immer flüstern, wie fett ich werde.«
»Jessica, wann haben Sie das letzte Mal eine Nacht richtig gut durchgeschlafen?«
Das Mädchen konnte nicht antworten. Sie bemühte sich zu sehr, nicht zu weinen.
»Jessica, Sie müssen schlafen. Ich kann Ihnen
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