Dead End: Thriller (German Edition)
Pfirsichrosa winterlicher Sonnenuntergänge verfärbte. Die schwache Januarsonne war nicht viel mehr als ein Echo am Horizont, und es würde nicht einmal mehr eine Stunde hell sein. Als er den Falken wieder auf seinem Platz anleinte, strich er ihm mit der Hand über den Kopf und lobte ihn flüsternd.
Das Rebhuhn kam zu den anderen in den Beutel, und der Falkner ging weiter. Als sein Handy klingelte, fluchte er leise und fischte es aus der Tiefe seiner Wachsjacke.
»Nick Bell«, meldete er sich. Dann, kurz darauf: »Wie schlimm ist es, sagen Sie?«
Noch ein paar Sekunden, während er zuhörte. »Okay«, sagte er. »Ich mache mich gleich auf den Weg.«
21
»Und, Jessica, wie ist es Ihnen diese Woche ergangen?«
»Prima.«
Evi lächelte. Zwischen dem jungen Mädchen, das ihr gegenüber im Sessel saß, und der Polizistin, die sich gerade eben erst daraus erhoben hatte, lagen vermutlich nicht mehr als fünf Jahre, doch zwei unterschiedlichere Gesichter konnte Evi sich nicht vorstellen. Die Polizistin war auf fast klassische Weise schön gewesen, allerdings mit einem Gesicht, das so reglos war wie ein Stein. Sie gab nichts preis. Dieses Mädchen dagegen, mit den großen braunen Augen und der kaffeefarbenen Haut, konnte nichts verbergen. Flatternde Wimpern, das Schimmern von Tränen, die Augen unfähig, Blickkontakt zu halten, und so unruhig, als hätte sie sich gerade in Juckpulver gewälzt. Dieses Mädchen mochte vielleicht behaupten, es ginge ihr prima. Ihre Körpersprache sagte jedoch etwas ganz anderes.
»Ich bin froh, dass Sie heute gekommen sind«, sagte Evi. »Letzte Woche habe ich mir Sorgen gemacht, als wir nichts von Ihnen gehört haben.«
Jessica Calloway blickte auf ihre Hände hinunter, die in ihrem Schoß lagen, dann schaute sie wieder zu dem großen Fenster auf. »Entschuldigung«, sagte sie. »Ich hab doch angerufen, am nächsten Tag. Vielleicht auch ein paar Tage später.«
»Ja, das stimmt, vielen Dank«, bestätigte Evi. »Man hat mir gesagt, Sie waren krank, ist das richtig?«
Jessica nickte. Sie schob einen Finger in ihr Haar und fing an, eine blonde Locke darumzuwickeln.
»Doch nichts Ernstes, hoffe ich«, fuhr Evi fort. Sie wusste bereits, dass Jessica nicht beim Arzt gewesen war. Sonst wäre Evis Dienststelle verständigt worden.
»Nur ein Virus, glaube ich«, erwiderte Jessica. »Um ehrlich zu sein, ich kann mich da gar nicht mehr richtig dran erinnern. Ich bin einfach abgestürzt. Hab einen ganzen Tag geschlafen, eine ganze Nacht und dann noch einen Tag. Bin aufgewacht und hab mich scheiße gefühlt. ’tschuldigung.«
»Kein Problem. So fühle ich mich auch manchmal«, meinte Evi. »Wie sieht’s mit Ihrem Appetit aus?«
Jessica seufzte wie ein Teenager, dessen Mutter mal wieder nervt. »Okay«, antwortete sie. »Ganz gut.«
Evi ließ den Blick an Jessicas Körper hinunterwandern bis zu den fellgefütterten Stiefeln, die ihre Waden schier verschlangen. Jessicas Jeans saßen locker, und die Schulternaht ihres Pullis hing auf Halbmast an ihrem Oberarm. Sie sah aus, als hätte sie in den zwei Wochen, seit Evi sie das letzte Mal gesehen hatte, sogar noch mehr abgenommen.
»Hatten Sie noch mal Ärger mit irgendwelchen dummen Streichen?«, wollte sie wissen.
Das Schimmern in den Augen des Mädchens wurde stärker.
»Irgendetwas, wovon Sie mir erzählen können?«, drängte Evi.
Jessica schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was in den Köpfen mancher Leute abgeht«, sagte sie. »Was hab ich denen denn getan?«
»Gar nichts«, antwortete Evi. »Wir wissen doch beide, dass an dem, was da passiert, nicht Sie schuld sind. Manche Leute sehen Sanftheit und Sensibilität und besitzen nicht die nötige Intelligenz zu begreifen, was sie vor sich haben. Also fassen sie das als Schwäche auf und nutzen es aus. Diese Leute haben ein ernstes Problem, und da kann ich ihnen nicht helfen. Aber Ihnen kann ich helfen.«
»Wissen Sie, was die diesmal gemacht haben?« Da war jetzt ein Hauch von Zorn, das war gut. Zorn war besser als Hinnahme. Evi wartete.
»Die sind in unseren Flur gekommen, wo die Kammern zum Wäschetrocknen sind, und haben meine Klamotten gefunden. Sie haben meine Unterwäsche mitgehen lassen.«
»Sie haben Ihre Unterwäsche geklaut?«
»Ja, aber das war noch nicht mal das Schlimmste. Sie haben sie ausgetauscht, gegen Riesenteile. So Oma-Unterhosen und riesengroße Stütz- BH s, als wollten sie sagen, wen willst du hier verarschen, eigentlich musst du doch so was
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