Dead End: Thriller (German Edition)
Prolog
Dienstag, 22. Januar (ein paar Minuten vor Mitternacht)
Wenn ein schwerer Gegenstand aus großer Höhe herabstürzt, beschleunigt sich seine Fallgeschwindigkeit, bis der aufwärts wirkende Luftwiderstand gleich der abwärts wirkenden Schwerkraft ist. An diesem Punkt erreicht er dann das, was gemeinhin als Endgeschwindigkeit bezeichnet wird. Diese bleibt so lange unverändert, bis das sich im freien Fall befindliche Objekt auf eine stärkere Gegenkraft, im Allgemeinen den Erdboden, trifft.
Die Endgeschwindigkeit eines durchschnittlichen menschlichen Körpers wird auf etwas über 190 Stundenkilometer geschätzt. Normalerweise wird diese Geschwindigkeit nach fünfzehn oder sechzehn Sekunden erreicht, bei einer Falldistanz von fünf- bis sechshundert Metern.
Es ist ein weit verbreiteter Irrglaube, dass Menschen, die aus beträchtlicher Höhe abstürzen, bereits vor dem Aufschlag sterben. Das ist nur selten der Fall. Obgleich stressbedingt ein tödlicher Herzinfarkt eintreten könnte, dauern die meisten Stürze dafür einfach nicht lange genug an. Theoretisch ist es auch möglich, dass man bei Lufttemperaturen unterhalb des Gefrierpunktes erfriert oder durch Sauerstoffmangel das Bewusstsein verliert, aber für diese Szenarien müsste man in großer Höhe aus einem Flugzeug springen, und abgesehen von sehr furchtlosen Fallschirmspringern tun die Leute dergleichen nur selten.
Die meisten Menschen, die aus großer Höhe fallen oder aus freien Stücken in den Tod springen, sterben beim Aufschlag, wenn ihre Knochen brechen und das umliegende Gewebe zerrissen wird. Der Tod tritt augenblicklich ein. Normalerweise.
Die Frau an der Dachkante eines der höchsten Türme von Cambridge braucht sich wahrscheinlich nicht allzu viele Gedanken darum zu machen, wann sie ihre Endgeschwindigkeit erreichen wird. Der Turm ist knapp über sechzig Meter hoch, und ihr Körper wird immer weiter beschleunigen, wenn sie die volle Höhe herabstürzt. Andererseits sollte sie sehr eingehend über das Aufschlagen nachdenken. Denn wenn das geschieht, wird das Kopfsteinpflaster am Fuß des Turmes ihre jungen Knochen zerschmettern wie feines Kristall. Im Augenblick jedoch scheint sie nichts zu kümmern. Sie steht da wie eine Touristin beim Sightseeing und betrachtet die Aussicht.
Kurz vor Mitternacht ist Cambridge eine Stadt der schwarzen Schatten und der goldenen Lichter. Der beinahe volle Mond scheint wie ein Suchscheinwerfer auf die prachtvollen umliegenden Gebäude herab, auf die Säulen, die wie steinerne Finger in den wolkenlosen Himmel hinaufdeuten, und auf die wenigen Menschen, die noch unterwegs sind und wie Gespenster in Lichtpfuhle hinein- und wieder hinausgleiten.
Sie schwankt ein wenig, und dann, als hätte sie irgendetwas bemerkt, neigt sie den Kopf.
Am Fuß des Turms ist die Luft still. Eine zerrissene Seite der Daily Mail von gestern liegt regungslos auf dem Pflaster. Oben auf dem Turm weht der Wind, stark genug, um das Haar der Frau wie eine Flagge um ihren Kopf flattern zu lassen. Die Frau ist jung, um die dreißig, und sie wäre schön, wäre ihr Gesicht nicht vollkommen leer und ausdruckslos. Wäre da ein Lebensfunke in ihren Augen. Dies ist das Gesicht eines Menschen, der glaubt, er sei bereits tot.
Der Mann, der über den First Court des St. John’s College hetzt, ist dagegen ungemein lebendig, denn nichts weckt den natürlichen Lebenswillen des Menschen so sehr wie nackte Furcht. Mark Joesbury, Angehöriger jener Abteilung der Londoner Polizei, die ihre Beamten zu den gefährlichsten Einsätzen abkommandiert, hat in seinem ganzen Leben noch nie solche Angst gehabt.
Oben auf dem Turm ist es kalt. Die Januarkälte treibt über das Marschland herein und legt sich um die Stadt wie die Hand eines Pädophilen um die eines kleinen, gefügigen Kindes. Die Frau ist nicht für Wintertemperaturen angezogen, doch sie scheint die Kälte nicht zu bemerken. Sie blinzelt, und plötzlich stehen Tränen in diesen toten Augen.
DI Joesbury hat die Tür des Kirchturms erreicht und findet sie unverschlossen vor. Sie kracht gegen die Steinmauer, und seine linke Schulter, die immer die schwächere sein wird, registriert kurz den Schmerz. An der ersten Treppenkehre sieht Joesbury einen Schuh liegen, einen schmalen, flachen, spitzen Schuh aus blauem Leder, spiegelblank poliert. Fast bleibt er stehen, um ihn aufzuheben, doch dann wird ihm klar, dass er das nicht über sich bringt. Schon einmal hat er den Schuh einer Frau in der Hand
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