Dead End: Thriller (German Edition)
Schulter. Ich drehte mich um und sah, dass der Physikstudent mir nach draußen gefolgt war. »War nett, dich kennenzulernen«, sagte er. »Und mach dir nichts draus. Dieser Laden ist echt seltsam, du gewöhnst dich schon dran.«
Als ich in meinen geliehenen hochhackigen Schuhen zu meinem Zimmer zurückstakste, kam mir der Gedanke, dass das Theaterstück von der unselbstständigen, unsicheren Laura Farrow vielleicht gerade einen ziemlich eindrucksvollen ersten Akt geboten hatte.
19
Dienstag, 15. Januar (vor sieben Tagen)
»Es stimmt nicht, dass die Selbstmordrate an Universitäten höher ist als beim Rest der Bevölkerung. Ich weiß, viele Leute glauben das, aber es ist nicht so.«
Dr. Evi Oliver, der einzige Mensch an der Universität von Cambridge, der noch wusste, dass ich eine Undercover-Polizistin war, nippte an dem Wasserglas auf ihrem Schreibtisch. Das hatte sie ziemlich oft getan, seit ich gekommen war; sie hob das Glas an den Mund, nippte nervös und stellte es wieder hin. Den Rest der Zeit spielte sie mit einer Büroklammer herum oder rückte Papiere zurecht. Ich brauchte keine Psychiaterin zu sein, um zu erkennen, dass sie genauso angespannt war wie ich. Allerdings war das in Anbetracht der Neuigkeit vom letzten Cambridge-Selbstmord – die Studentin im dritten Semester, die sich Sonntagfrüh selbst enthauptet hatte – auch kaum überraschend. Irgendetwas war in dieser Stadt ernstlich aus dem Lot geraten.
»Aber Selbstmord kommt doch vor allem unter jungen Menschen vor«, erwiderte ich und versuchte, mich nicht vom stetigen Strom der Studenten ablenken zu lassen, die draußen vor dem Haus auf dem Gehsteig durcheinanderwuselten. Der Psychologische Beratungsdienst für Studenten, den Dr. Oliver leitete, hatte seinen Sitz in der Stadt, ein Stückchen von den meisten Universitätsgebäuden entfernt. Ich konnte Häuser im Regency-Baustil sehen, Büroblocks in der Ferne, die Ecke eines Einkaufszentrums. Wir befanden uns im ersten Stock, doch Dr. Olivers großes, helles Büro hatte Fenster vom Boden bis zur Decke. »Junge Leute reagieren doch oft unverhältnismäßig«, fuhr ich fort. »Ich glaube, ich hab mal irgendwo gelesen, dass sie Selbstmord als große Geste betrachten. Sie setzen Suizid nicht unbedingt damit gleich, tot zu sein, und zwar für immer.«
Ich hatte eine Menge Zeit damit verbracht, mich in das Thema Selbstmord einzulesen, die ganzen letzten Tage. Was ich unter anderem wusste, war, dass die Selbstmordrate in Großbritannien ungefähr bei sechzehn von hunderttausend Personen lag. In einer Stadt von der Größe Cambridges, mit einer Einwohnerzahl von fast hundertzehntausend, würde man damit rechnen, dass sich sechzehn bis achtzehn Menschen jedes Jahr das Leben nahmen. In diesem Kontext erschienen vier oder fünf tote Studenten nicht allzu erschreckend.
Dr. Oliver lehnte sich zurück und zog an einer Schnur, die die Jalousien vor den Fenstern schloss, so dass es nichts mehr zu sehen gab. »Die Sonne wird um diese Tageszeit ganz schön intensiv«, sagte sie, und ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, gerade ermahnt worden zu sein, weil ich nicht aufgepasst hatte. Schön, wenn sie meine geballte Aufmerksamkeit wollte, die konnte sie kriegen.
Dr. Oliver sah aus wie eine Matroschka-Puppe . Ihr kinnlanges Haar war fast schwarz und glänzte wie Lackleder. Ihre Haut würde in der Sonne bestimmt eine sanfte rosige Bräune bekommen, jetzt im Januar jedoch war sie von heller Blässe. Sie trug einen lavendelblauen Pullover, der ihr gut stand, und war jünger und hübscher, als ich erwartet hatte. Allerhöchstens Mitte dreißig und, wie Joesbury gesagt hatte, ein heißer Feger. Außerdem war sie gehbehindert, wie sowohl der Rollstuhl als auch der Gehstock aus Aluminium mir verrieten.
Sie ertappte mich dabei, wie ich sie anstarrte, und blinzelte mir zu. Ihre Wimpern waren lang und dick getuscht, und sie umrahmten Augen, die so tiefblau waren, dass es an Indigo grenzte. »Selbstmord ist bei jungen Erwachsenen die zweithäufigste Todesursache«, sagte sie. »Und zwar mit steigender Tendenz, vor allem unter jungen Männern. Aber die Vorstellung, dass Studenten besonders anfällig sind, basiert auf verschiedenen nicht akkuraten Studien und ist ganz einfach falsch.«
Ich lehnte mich in meinem Sessel zurück. »Weiter.«
»Zwischen 1970 und 1996 wurde hier in Cambridge eine Studie zum Thema Selbstmord durchgeführt«, berichtete Dr. Oliver. »Sie hat gezeigt, dass statistisch gesehen an der
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