Deadline 24
selbst, wie selten ich jemanden finde. Moloch hat fast alle vor mir gefunden und vernichtet. Warum dann doch einige, wenn auch nur wenige, überlebt haben?« Er zog die Schultern hoch. »Ehrlich – ich weiß es nicht. Möglicherweise hat Moloch sie verschont, weil er glaubte, es sei gut, jemanden zu haben, mit dem er direkt in Kontakt treten könnte. Joker, sozusagen. Wie dem auch sei, Carlita hier«, er zeigte mit beiden Händen auf Carlitas Brust, »ist so ein Mensch. Du, Sally, und deine Mutter natürlich. Wie war ich froh, Angelina entdeckt zu haben, und wie sehr war ich enttäuscht, als ich feststellen musste, dass eine wirkliche Verbindung mit ihr nie zustande kommen konnte.«
»Sie ist blind«, flüsterte Sally.
Windmann nickte. »Ein kurzer visueller Kontakt ist notwendig, sonst kommt die Kommunikation nur teilweise zustande. Trotzdem habe ich versucht, immer in eurer Nähe zu bleiben, habe euch beobachtet, habe gewartet und gehofft. Es konnte einfach nicht sein, dass Angelina ihre Gabe nicht wenigstens einem ihrer Kinder vererbt hatte. Manchmal dauert es eben, bis die mentalen Barrieren fallen, bei Carlitas Mutter fielen sie nie. – Okay, Zeit für eure Fragen. Habt ihr etwas nicht verstanden?«
Caleb grunzte.
»Heißt das jetzt ja oder nein, so äußert euch doch! Sally, was ist mit dir, hast du mich verstanden?«
Sally zog ratlos die Schultern hoch. Nicht alles hatte sie verstanden, eigentlich nur sehr wenig, eigentlich so gut wie nichts. Doch sie wusste, dass Windmann die Wahrheit sprach, es lag Wahrheit in seinen Worten, es lag ein Sinn darin, aber es gelang ihr nicht, ihn zu fassen. Er entschlüpfte ihr wie die Bedeutung eines schweren Traumes, aus dem man mitten in der Nacht hochschreckt. Je mehr sie sich bemühte, desto verwirrter wurde sie.
»Was hast du nicht verstanden?«, fragte Windmann sanft.
»Das mit den Maschinen«, stieß sie endlich hervor. »Und dem Netz über der Welt und …«
Carlitas Körper sank zusammen. »Aber das ist doch das Wichtigste«, murmelte Windmann resigniert. »Wenn ihr das nicht begreift, begreift ihr nichts.«
Er tat Sally leid. Sie wollte ja verstehen, wollte es unbedingt. »Vielleicht kannst du ein Bild benutzen«, schlug sie vor. »Wenn mein Großvater etwas Kompliziertes erklären will, beginnt er immer mit: ›Stell dir mal vor!‹«
Windmann schloss die Augen, überlegte still.
»Stellt euch mal vor«, begann er, »dass es zwei Welten gab. Die eine war real, dort lebten wir, die andere war, äh, anders, nennen wir sie Anderwelt.«
»Hat Anderwelt immer schon existiert?«, fragte Caleb.
»Nein. Wir haben Anderwelt geschaffen, aber vergesst das jetzt mal. Wichtig ist, dass es Tore gab, durch die wir Anderwelt betreten konnten, doch niemals kam Anderwelt zu uns. Wir liebten Anderwelt, verbrachten viel Zeit dort, vor allem in den Freizeitparks. In denen erlebte man Abenteuer, stieß auf Dämonen, Drachen, Hexen, Elfen, Trolle, Wesen von anderen Sternen, was auch immer. Man kämpfte gegen sie, und wenn man unterlag, war das kein großes Problem, denn in Anderwelt gab es keinen endgültigen Tod. Man erhielt ein weiteres Leben und begann von Neuem, diesmal vielleicht mit mehr Geschick. Einige dieser Freizeitparks trugen den Namen Deadline. In Deadline 24 zum Beispiel kämpfte man gegen unsichtbare Flugechsen, Gorgonen, Silkies, Spuckvipern und noch viele andere Monster mehr. Es gab auch hilfreiche Kreaturen, Meergeister zum Beispiel, die den Spielern halfen, die Ozeane zu überqueren. Doch dann wurden die Tore durchlässig, und ohne dass wir etwas bemerkten, entstand in den Kreaturen von Deadline 24 der Wunsch, die engen Grenzen, die ihnen zugewiesen waren, zu verlassen. Es war ein Überraschungsangriff und er war auf ganzer Linie erfolgreich. Die Kreaturen vernichteten Anderwelt und verschlangen die Menschen, die sich darin aufhielten. Das waren sehr viele. Ihr dürft nicht vergessen, dass der Besuch von Anderwelt zum Alltag gehörte, er war so normal wie morgens das Zähneputzen.
Und dann traten die Kreaturen von Deadline 24 durch das Tor und verbreiteten sich über die entvölkerte Erde. Die wichtigste dieser Kreaturen ist euer Trugnebel, den ich Moloch nenne. Ein Dämon, viele Dämonen, besser gesagt, unendlich viele, sehr intelligent, sehr mächtig. Sie sind überall und stehen immer miteinander in Verbindung, sodass sie handeln können wie ein einziges Wesen. In ihrem dämonischen Bewusstsein existiert nur ein Wunsch, ein Streben: die Erde nach dem
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