Deadline 24
dachte Sally. Vielleicht hast du sogar gewollt, dass sie kommen und dich holen. Sie fühlte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Über ein Jahr hatte Vigo auf der Farm gelebt, und ihr fiel nichts Netteres zu ihm ein, als dass er verrückt gewesen war.
Kapitel 4
Neben dem Pumpenhaus stand auf schimmernden Kufen mit leuchtenden Rotoren das Fluggerät. Es hatte sich auf dem Betondeckel des Generatorenbunkers niedergelassen, als wisse es, wie dieser erhöhte Platz seine Einzigartigkeit betonte. Schimmernd weiß webten die seltsamen Röhren ihren Kokon um den graugrünen Flugkörper, auch die Rotoren und Landekufen waren überwuchert, ja selbst die Fensteröffnungen schienen keine Glasscheiben zu enthalten, sondern klare, durchsichtige Membranen, die im sanften Rhythmus pulsierten. Die Rotoren standen still, und es sang nicht mehr, nicht richtig jedenfalls. Erst als Sally dichter herankam, hörte sie zarte, sehr leise Töne. Überall aus den Röhren sickerten sie hervor. Sie trafen ihr Herz, diese Töne, irgendwie wirkten sie rührend, fast wie das Brabbeln eines müden Kindes.
»Er ist ein lebendes Wesen«, erklärte der junge Mann mit dem Ohrring und dem Kinnbärtchen auf Sallys staunende Blicke hin. »Intelligent und mächtig. Aber jetzt ist er erschöpft. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass er die Hybride mit seinen Blitzen verjagt und dann auch noch einen Wolkenbruch bewirkt hat, um die Feuer zu löschen.«
»Unglaublich«, hauchte Sally. Ehrfürchtig umrundete sie den Betonbunker. »Hat er einen Namen?«
»Nur einen vorläufigen. Wir nennen ihn Org, bis uns etwas Besseres einfällt. Wie Organismus, verstehst du?«
»Hm. Gehören sie zusammen, Org und der, äh, Flugkasten?«
Er lächelte. »Der Flugkasten ist ein alter Helikopter. Und ja, sie gehören zusammen. Sie sind untrennbar.«
»Untrennbar«, wiederholte Sally fasziniert. Sie langte hinauf und streichelte die unterste der schimmernden Röhren. Kühl und glatt fühlte sie sich an, kein bisschen glitschig, wie sie es halb erwartet hatte. Die zarten Töne aus dem Inneren des Org schwollen an, als Sallys Hand seine Röhre berührte. Fast war es, als riefe er sie, als wolle er unbedingt, dass sie sich zu ihm hinaufschwang. Ein Seil hing aus der seitlichen Tür. Sally zog daran, es gab einen Ruck und mit fürchterlichem Scheppern landete ein Blecheimer zu ihren Füßen.
»Sie hat den Org kaputt gemacht!«, schrie der sommersprossige Junge. »Sie hat unseren Helikopter gekillt!«
Sally erschrak fast zu Tode, da kicherte der Junge los und seine Kumpane fielen glucksend ein. Am besten wäre es natürlich gewesen, Sally hätte mitgelacht, aber irgendwann an diesem Tag zwischen Hybridenangriff, Vigos Tod und der brennenden Farm musste ihr der Humor abhandengekommen sein. Sie war stinkwütend, tat einen großen Schritt auf den frechen Jungen zu, stolperte über den Eimer und wäre der Länge nach hingestürzt, hätte nicht einer der Männer, der große, zimtfarbene mit den gedrehten Zöpfchen, sie aufgefangen. So fand sie sich in seinen Armen wieder.
»Uiuiui!«, jodelte der Junge, wedelte mit den Fingern, als hätte er sich verbrannt, spitzte die Lippen und warf schmatzende Kussgeräusche in die Luft.
»Caleb«, sagte der junge Mann und lächelte freundlich. »Mein Name ist Caleb!«
»Schön für dich«, zischte Sally und wandte sich schnell aus der unfreiwilligen Umarmung.
»Josie macht immer Witze«, sagte Caleb gutmütig. »Du wirst dich schon daran gewöhnen.«
»Warum sollte ich? Will er hier einziehen?«
»Wer?«, fragte Caleb verwirrt.
Ohne auf diese blöde Frage zu antworten, stapfte Sally zum Haus, froh darüber, dass Mutter sie noch in der Küche brauchte. Sie hatte keine Lust, weiterhin als Zielscheibe für den Spott des unverschämten Jungen herzuhalten, und ärgerte sich, weil ihr kein schlagfertiger Spruch einfallen wollte, mit dem sie ihn hätte bloßstellen können. Doch selbst die geistreichste Bemerkung hätte nichts genutzt, denn als sie und Mutter mit Schüsseln und Platten beladen das Esszimmer betraten, war der Knabe verschwunden. Statt seiner wirbelte ein junges Mädchen durch den Raum. Sie hatte die Kappe abgenommen, rostrotes, lockiges Haar floss über ihre Schultern. Statt der schweren Segeltuchjacke trug sie ein eng anliegendes, schwarzes Unterhemdchen. Dass sie ein Mädchen war, war nicht mehr zu übersehen. Wenigstens wusste Sally jetzt, warum ihr Bruder und all die anderen Kerle sie so hingerissen angeschmachtet
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