Deathbook (German Edition)
einem Zelt am Ufer verbracht. Die Fotos schaute ich mir gerade an, und jedes einzelne löste erneut Schmerz und Trauer aus. Obwohl sie manchmal ein sehr nachdenkliches, in sich gekehrtes Mädchen gewesen war, war kein einziges Foto dabei, auf dem sie nicht lächelte. Ihr typisch herzliches, ansteckendes Lächeln festigte einmal mehr meine Überzeugung: Ein Mensch mit einem solchen Lächeln nahm sich nicht das Leben.
Die Fotos verschwammen vor meinen Augen, und ich sah die Erinnerung an die Kanutour wie einen Film vor meinem inneren Auge ablaufen.
Kathi saß in dem seetüchtigen Zweierkajak in der vorderen Luke. Wir brauchten die Spritzschutzdecken nicht, denn das Wetter war gut, die Sonne schien schon den ganzen Vormittag. Kathi trug aber ihre Schwimmweste, darauf hatte ich bestanden. Oder besser ihre Mutter. Ich hatte Iris versprechen müssen, dass Kathi die Weste in jeder Sekunde trug, die wir auf dem Wasser verbrachten, sonst hätte sie die Tour nicht mitmachen dürfen.
Die Tour war ihr großer Wunsch gewesen. Ich war die Strecke schon einmal gefahren und hatte begeistert davon berichtet. Ich fand es ganz großartig, wie Kathi sich für die Natur begeisterte. Diese Leidenschaft teilte sie mit ihrem Vater und mir, leider nicht mit ihrer Mutter.
Der Fairness halber trug auch ich meine Schwimmweste, obwohl ich sonst gern darauf verzichtete. Sie engte mich ein, ich konnte mich nicht frei bewegen, außerdem schwitzte ich darunter. Tja, das war der Preis, den ich bezahlen musste, um mit meiner einzigen Nichte unterwegs sein zu können. Ich fand, das war es wert.
Die Sonnenstrahlen brachen sich in dem vom Paddeln aufgewühlten Wasser, tausende Lichtreflexe verwirrten den Blick. Das Wasser roch mineralisch und frisch, immer wieder tauchte Kathi eine Hand hinein und kühlte ihr Gesicht. Noch waren so gut wie keine Mücken und Bremsen unterwegs, das würde sich am Nachmittag ändern, wenn die Hitze über dem Wasser lag. Wir hatten ein Schutzmittel zum Einsprühen dabei, aber meine Erfahrung sagte mir, dass sich bestenfalls die Hälfte aller Insekten davon beeindrucken ließ. Wenn der Kampf gegen die andere Hälfte erst begann, ließ der Spaß ein wenig nach, aber jetzt war alles in bester Ordnung, und ich genoss die Stille und Abgeschiedenheit. Genoss es, wie unsere Paddel in gleichmäßigem Rhythmus auf und ab schwangen und wie das schlanke Kajak durch das Wasser glitt.
In diesem Moment war die Welt perfekt.
Ich hoffte, dass Kathi genauso fühlte. Sie hatte seit einer Weile nichts mehr gesagt. Genau wie ich war sie ins Paddeln und Beobachten vertieft.
Kathis schmale Silhouette verwehrte mir den Blick nach vorn, deshalb hatte ich hauptsächlich die Uferböschung im Auge. Dort sah ich die Bewegung zuerst, stellte sofort das Paddeln ein und hatte nun doch einen Grund zu sprechen.
«Schau mal, da links», sagte ich leise.
Kathi legte ihr Paddel auf dem Boot ab. Sie sah sofort, was ich meinte. Ein Reh stand dort am Ufer. Ein paar Sekunden blickte es sich suchend um, dann sprang es ins Wasser. Vielleicht hundert Meter von uns entfernt durchquerte es schwimmend den Fluss. Nur der grazile Kopf mit den hoch aufgestellten Ohren ragte aus dem Wasser.
«Wahnsinn!», stieß Kathi leise aus. «Ich wusste nicht, dass sie schwimmen.»
Das Schauspiel dauerte nur eine halbe Minute. Dann erreichte das Reh eine flache Sandbank am anderen Ufer, stieg aus dem Wasser und sprintete davon.
Einen Moment lang sahen wir dem Tier schweigend nach.
«Können wir dort eine Pause machen?», fragte Kathi und zeigte auf die Sandbank.
«Klar.»
Wir ruderten hinüber, legten an, sprangen mit nackten Füssen ins warme Wasser und zogen das Kajak auf den trockenen Sand. Kathi kletterte die Uferböschung hinauf und sah sich nach dem Reh um. Das war aber längst in einem der Maisfelder verschwunden.
Ich nahm den wasserdichten Packsack mit dem Proviant aus dem Boot und folgte ihr. Da die Uferböschung durchgehend zwei Meter hoch war, konnten wir bei dem niedrigen Wasserstand vom Boot aus kaum sehen, wo wir uns befanden. Vor uns erstreckte sich ein Maisfeld bis gegen einen Waldrand, der vielleicht zweihundert Meter entfernt war. Häuser oder Straßen gab es keine, geschweige denn Menschen. Erstaunlich, wie einsam man sich auch heutzutage noch im dicht besiedelten Norddeutschland fühlen konnte.
«Wie ruhig es hier ist», sagte Kathi.
Ich sah sie an und bemerkte, dass ihr Gesicht gerötet war. Sie trug zwar eine Schirmmütze gegen die Sonne,
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