Deathbook (German Edition)
Altmaier sich zu mir um und sah mich direkt an. In diesem tristen Klassenraum verloren seine blauen Augen etwas von ihrer Strahlkraft.
«Ich will Klarheit», entgegnete ich.
«Nun, das kann ich verstehen. Astrid … also Frau Pfeifenberger, sagte, dass Sie einen Selbstmord für ausgeschlossen hielten.»
«Richtig.»
Der Lehrer presste seine Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und schüttelte den Kopf.
«Wenn mich vor drei Monaten jemand gefragt hätte, ob bei Kathi die Gefahr eines Suizids besteht, hätte ich das auch weit von mir gewiesen. Aber heute … ich weiß nicht. Ich habe ihr Verhalten während unseres Projektes ‹Der Tod und der Mensch› noch einmal Revue passieren lassen. Damals war es mir nicht bewusst, aber heute kann ich sagen, sie hat das Thema doch sehr nah an sich herangelassen. Vielleicht zu nahe … ich mache mir schon Vorwürfe deswegen. Ich hätte vielleicht etwas bemerken müssen.»
Ich suchte den Blick des Lehrers, doch der sah auf den Aktenordner hinab, der auf dem Pult lag. Machte der Mann sich wirklich Vorwürfe? Oder versuchte er nur, mich zu beeindrucken?
«Was wollten Sie mir eigentlich zeigen?», fragte ich.
«Ja, richtig. Moment.»
Er schlug den Aktenordner auf, hebelte die metallenen Bügel auseinander und entnahm ihm ein Blatt Papier.
«Dieser Text stammt von Kathi. Nehme ich zumindest an, denn sie hat keine Quelle genannt. Ich fand ihn damals sehr gut und habe ihn in die Sammlung für die Projektausstellung aufgenommen.»
Ich nahm das Blatt. Es war ein Computerausdruck, kein handschriftlicher Text.
Im Netz bin ich überall und jederzeit, bin Bedrohung und Erfüllung zugleich. Ich bin in den Leitungen, Verbindungen und Schaltkreisen aus Kunststoff, Silizium und Kupfer, schwinge als millionenfaches Raunen und Wispern ungebunden durch kabellose Sphären, finde meinen Weg und mein Ziel in einer Dimension, die der Mensch nicht versteht. Unwissentlich hat er mir einen virtuellen Raum und eine endlose Zeit geschaffen, in der ich allgegenwärtig sein kann.
Technik hat mich nicht domestiziert, sondern befreit.
Eingesperrt ist nur der Mensch, in dem von ihm selbst geschaffenen Raum. Und darin ist Sterben so einfach wie ein Mausklick. Jemanden zu finden, der stirbt, ist so einfach wie ein Download. Wenn nichts mehr geheim ist, wenn die digitale Welt der realen ihre Verstecke und Rückzugsräume raubt, dann liegt das Leben der Menschen offen wie Eingeweide in einem aufgeschlitzten Bauch.
Wo bist du heute um acht? Ich weiß es, bevor du selbst dort bist. Wo wirst du in einer Woche sein, wer ist bei dir, zu welcher Minute bist du an welchem Ort allein, schutzlos, ausgeliefert? Ich weiß es, bevor du die Gefahr auch nur ahnst. Welche Wünsche und Sehnsüchte treiben dich? Du vertraust sie mir an, bevor sie dir selbst bewusst sind. Datenschutz. Privatsphäre. Vergiss es! Du bist längst durchschaut, ich habe alles, was ich brauche. Ich bin schon lange nicht mehr nur auf den Friedhöfen und in den Mausoleen, nicht in den Sterbestationen und Altenheimen. Ich habe die Pest- und Choleraenklaven hinter mir gelassen und den alten Schlachtfeldern den Rücken gekehrt.
Ich bin das Raunen und Rauschen im Netz. Ich bin die Eins zwischen den Nullen, der Anhang, der Download, die Datei.
Ich bin der Tod 3 . 0 .
T homas Resing kam ganz verschwitzt zu Hause an. Er hatte gehofft, dass der Brief heute eingehen würde, und hatte die fünf Minuten Fußweg vom Bus hierher im Laufschritt zurückgelegt. Er sah das Postauto vor dem Haus halten, rief der Briefträgerin ein Hallo zu und nahm ihr die Post noch am Wagen ab. Er wollte vermeiden, dass der Brief seinen Eltern in die Hände fiel. Wie schnell war im Eifer des Gefechts ein Umschlag aufgerissen, selbst wenn sein Name darauf stand! Er wusste nicht, was der Brief enthielt. Möglicherweise würde es seine Eltern erschrecken.
Thomas steckte sich die Werbeflyer verschiedener Kaufhäuser und den Umschlag für seinen Vater unter die Achsel. Er atmete schwer. Tatsächlich, da war sein Brief. Er betrachtete ihn und ging damit zur Haustür.
Der Umschlag war schwarz und aus festem, strukturiertem Papier, das edel wirkte. Er befühlte den Inhalt mit den Daumen und runzelte die Stirn. Den Abmessungen nach befand sich in dem Umschlag nur eine kleine Karte.
Na, er würde ja gleich erfahren, was es damit auf sich hatte.
Vor dem Haus oder im Flur wollte er den Brief aber keinesfalls öffnen. Erst brachte er die restliche Post in die Küche.
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