Deathbook (German Edition)
Seine Mutter räumte gerade die Spülmaschine aus. Schnell ließ er seinen Brief im Hosenbund unter seinem T-Shirt verschwinden.
«Was Interessantes dabei?», fragte seine Mutter. Sie war schon für ihr Tennistraining gekleidet. Thomas mochte es nicht, wenn sie diesen kurzen weißen Rock trug. Okay, ihre Beine waren für ihr Alter in Ordnung, aber so kurz musste der Rock trotzdem nicht sein.
«Nee, nur Werbung und ein Brief für Dad.»
«Er kann es nicht leiden, wenn du ihn so nennst, das weißt du doch.»
«Solange er mich TommyX 5 nennt, nenne ich ihn eben Dad.»
Seine Mutter stellte die Teller weg.
«Bist doch selbst schuld. Den Namen hast du dir ausgesucht.»
«Ja, aber fürs Internet, und was ich da mache, geht Papa gar nichts an.»
«Ihr beide seit euch so ähnlich, richtige Dickköpfe.» Sie lächelte und wuschelte ihm durchs Haar.
«Mama, bitte …» Tommy flüchtete aus der Küche und brachte auf dem Weg ins Obergeschoss seine Frisur in Ordnung. Dass sie diese alte Gewohnheit aber auch nicht lassen konnte. Dabei ging es ihm gar nicht um sein zerstörtes Styling, sondern darum, dass er sich wie ein kleines Kind behandelt fühlte, wenn sie das tat.
Er warf die Zimmertür hinter sich zu, stellte die Musik an, ließ sich aufs Bett fallen und zog den Umschlag hervor.
«Hoffentlich war es das wert», murmelte er und befühlte ihn noch einmal.
Schließlich hielt er die Spannung nicht länger aus und riss ihn auf. Bis auf eine Art Visitenkärtchen lag nichts darin. Kein Begleitschreiben, kein Keycode, nicht einmal eine einfache Notiz. Er betrachtete das Kärtchen. Es war genau so schwarz und von teurer Qualität wie der Umschlag.
Die Einladung auf der Rückseite war eindeutig. Mit so etwas hatte er zwar nicht gerechnet, aber es war natürlich geschickt.
«Okay», sagte er, griff in die Gesäßtasche seiner Jeans und zog sein Handy hervor. «Kann losgehen. Ich bin zu allem bereit.»
I m Aufbahrungsraum herrschte eine meditative Ruhe, die langsam auf Ann-Christin überging. An den Wänden floss indirektes gelbes Licht herab, das aus der vertäfelten Decke hervorquoll. Nur ein einziger Sarg stand mitten an der Stirnseite des Raumes vor der Wand, flankiert von zwei großen Blumenbuketts und hohen dreiarmigen Kerzenständern. Weiße Kerzen brannten darin. Der Deckel des Sarges war geschlossen.
Ann-Christin trat mit vor dem Bauch gefalteten Händen vor den Sarg. Dort standen zwei Stühle mit bequemer Polsterung. Sie wollte sich eigentlich nicht setzen, doch plötzlich begannen ihre Knie so sehr zu zittern, dass ihr gar nichts anderes übrigblieb.
Sie sackte auf dem Stuhl in sich zusammen und starrte den Sarg an. Ihr Kopf war leer, ihre Augen waren leer, keine Tränen mehr, gar nichts. Sie fühlte sich tot. Wie sollte sie ohne ihre Mutter weiterleben?
«Wie, sag es mir!» Die Worte verließen ihre Lippen, als hätten sie nur auf diesen Moment gewartet. «Bitte, Mama, du kannst mich doch nicht einfach so verlassen …»
In diesem Augenblick erschien es ihr wie das Normalste der Welt, mit ihrer toten Mutter zu sprechen. Vielleicht war Mama ja auch gar nicht tot. Woher sollte sie das wissen, wenn sie nicht in den Sarg geschaut hatte? Sie konnte sich Mama einfach nicht tot vorstellen, es ging nicht. Immer sah sie ihr lebendiges Gesicht vor sich, von dem sie sich morgens an der Haustür verabschiedet hatte. Die Polizeipsychologin hatte gemeint, das sei gut und sie solle daran festhalten, aber das war Quatsch. Wie sollte sie so Mamas Tod akzeptieren? Sie hatte sie nicht sterben sehen, und alles, was am Fuß der Kellertreppe geschehen war, hatte Ann-Christin vergessen. Ihre letzte Erinnerung war das Smiley-Gesicht auf dem Hausschuh.
Man hatte ihr gesagt, sie habe die Polizei gerufen und bis dahin neben ihrer toten Mutter ausgeharrt. Später sei sie zusammengebrochen und zur Beobachtung ins Krankenhaus gekommen. Von alldem wusste sie nichts mehr. Laut Polizei und Amtsarzt war ihre Mutter die Treppe hinuntergestürzt und hatte sich das Genick gebrochen. Angeblich war sie sofort tot gewesen und hatte nicht gelitten.
Ein Unfall. Für die Polizei war es ein Unfall.
Und ihr Kopf war so taub, ihre Gedanken so träge, dass sie kaum in der Lage war, etwas anderes zu denken. Aber sie erinnerte sich an die Gewalt und den Hass, an die vielen Drohungen, die ihr Vater damals ausgestoßen hatte, bevor er das Haus verlassen musste. Das alles verdunkelte ihren Horizont wie eine schwarze Gewitterwolke, eine diffuse
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