Deathbook (German Edition)
seinen Rechner übertragen. Er war sehr zufrieden mit dem Standort der Kamera. Später, wenn alles vorbei war, würde er sie holen. Falls etwas schiefgehen sollte, würde sie dort oben wahrscheinlich niemand entdecken. Und wenn doch, so konnte er den Verlust verschmerzen. Diese Bilder waren es wert. Aus so großer Nähe hatte er noch nie ein Feuer gesehen.
Mit der Maus fuhr er das Bild aus der Totalen zurück. Das Feuer war wunderschön, aber was jetzt kam, war noch weit fesselnder. Seine Kunden wollten genau das sehen.
Troublemaker, KingofSpeed, Bitchhunter und Phantom. Das waren ihre Nicknames, dahinter versteckten sie sich. Glaubten an die totale Anonymität des Internets. Aber er wusste längst alles von ihnen, was er wissen musste. Erstmals war ihm eine Gruppe in die Fänge geraten, und er war ganz gespannt darauf, wie das funktionieren würde. In Gedanken hatte er schon einen Plan entworfen.
Vielleicht würde er ihnen sogar sein eigenes Video zur Verfügung stellen und nicht das seines heutigen Ehrengastes.
Dessen Bilder würde er später noch ein wenig bearbeiten und archivieren. Es waren schließlich Laienaufnahmen. Auf sie allein würde er sich bei einer so wichtigen Sache nie verlassen. Allerdings hatten auch Laienaufnahmen einen gewissen Reiz. Technische Perfektion konnte den Eindruck zerstören, man nehme an etwas Realem teil. Die Handyaufnahmen seines heutigen Gastes unterstrichen gerade diesen Effekt.
Das Hochbett war jetzt voll im Bild.
Oben auf der Liegefläche bewegte sich der Junge, soweit es die Drahtfesseln zuließen. Das empfindliche Mikrophon, das er oben am Bettgestell installiert hatte, übertrug seine durch den Knebel gedämpften Schreie. Das Knistern und Krachen des Feuers übertönte sie jedoch schnell.
Das Feuer wurde immer wilder. Mit langen heißen Armen griff es nach den Pfosten des Bettgestells. Holz zerbarst. Funken stoben auf. Die Hitze ließ die Luft flirren. Das Bett wackelte unter den panischen Bewegungen des Jungen. Von der Spitze des Scheiterhaufens aus sprangen die Flammen auf die Liegefläche über, fraßen sich von unten hinein. Das Holz entzündete sich sofort, und die gierige Hitze hüllte den Körper ein.
E s klingelte an der Haustür.
Wie ein boshafter Eindringling fiel das Geräusch über das seit Tagen stille Haus her. Es schnellte durch das Treppenhaus in die erste Etage hinauf bis in das kleine Zimmer unterm Dach.
Ann-Christin erschrak.
Sie stand gerade vor dem Spiegel im Badezimmer und bürstete ihr langes dunkles Haar. Um ihren Körper hatte sie ein Handtuch geschlungen, sie hatte gerade geduscht. Zum ersten Mal seit der Beerdigung. Sie hatte sich selbst nicht mehr riechen, nicht mehr ertragen können, und es hatte so gutgetan, unter dem heißen Wasserstrahl zu stehen. Die vergangenen Tage hatten ein Spinnennetz um ihren Körper gewickelt, es war immer dichter und dichter geworden, sie hatte kaum noch atmen können. Doch jetzt, nach der Dusche, ging es ihr viel besser. Sie spürte sogar wieder Appetit und freute sich auf ein Frühstück.
Aber wer klingelte um halb zehn am Vormittag bei ihr?
Tante Verena vielleicht? Sie konnte sich niemand anderen vorstellen.
Ann-Christin legte die Bürste beiseite und trat zum Treppenabsatz. Durch das Milchglas der Haustür sah sie einen Umriss. Eigentlich war er zu groß für Tante Verena.
Ann-Christin schlich barfuß die Hälfte der Treppe hinunter. Es klingelte erneut.
«Wer ist da?», rief sie.
Es waren ihre ersten Worte seit Tagen, und sie erschrak vor ihrer eigenen Stimme. Sie klang heiser und rau.
«Tante Verena und Onkel Gustav», antwortete Onkel Gustav. «Komm, mach auf, Mädchen, wir haben nicht ewig Zeit.»
Automatisch folgte Ann-Christin dem Befehl und ging die Treppe ganz hinunter. Vor der Haustür blieb sie abermals stehen.
«Das geht nicht, ich habe gerade geduscht», rief sie.
«Großer Gott, stell dich nicht so an. Wir brauchen den Versicherungsordner. Mach schon auf.»
Gustav klang wie immer ungehalten. Ann-Christin traute sich nicht, ihn abzuweisen.
Also schlang sie das Handtuch enger um ihren Brustkorb und öffnete die Tür. Davor stand nur Gustav.
«Wo ist Tante Verena?», fragte Ann-Christin.
«Wartet im Auto, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit», sagte Gustav barsch und drängte sich an ihr vorbei in den Hausflur. Ann-Christin warf einen Blick nach draußen. Gustavs Wagen stand am Straßenrand, aber ihre Tante saß nicht darin.
Ann-Christin ließ die Haustür geöffnet und folgte
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