Deathbook (German Edition)
Gustav ins Wohnzimmer, blieb aber im Türrahmen stehen.
«Ich kann Tante Verena gar nicht im Wagen sehen.»
Gustav kniete vor der Anbauwand aus dunklem Mahagoniholz. Im unteren Fach befanden sich die Ordner. Er sah zu ihr auf.
«Spielt doch keine Rolle, Mädchen, wir brauchen dringend diese Versicherungsunterlagen, oder glaubst du, wir wollen die Beerdigung allein bezahlen. Dein feiner Herr Vater meldet sich ja nicht.»
Gustavs Blick war Ann-Christin unangenehm. Seine wässrigen Augen, die Art, wie seine Zunge einmal schnell über seine Oberlippe wischte. Sie trug nur das Badehandtuch, ihre Beine und Schultern waren nackt. Schnell verschränkte sie die Arme vor dem Oberkörper.
«Ich denke, ihr habt alles, was ihr braucht», sagte sie.
Gustav sah sie noch einen Moment nachdenklich an, dann schüttelte er den Kopf und wandte sich wieder dem Ordner zu, der vor ihm auf dem Fußboden lag. Er blätterte schnell durch die Seiten.
«Du hast doch von diesen Dingen keine Ahnung. Genau wie deine Mutter. Ich verstehe nicht, wie man so unvorbereitet sein kann.»
«Sie war erst fünfzig», sagte Ann-Christin.
«Na und? Ich bin sechsundfünfzig und habe schon seit Jahren meine Angelegenheiten geregelt.»
Weil du zu viel trinkst und aussiehst, als würdest du jeden Moment einen Herzinfarkt bekommen, dachte Ann-Christin, sprach es aber nicht aus. Seine Hose war heruntergerutscht, sodass zwischen Hemd und Bund ein Stück seines blassen Hinterns hervorlugte.
Angewidert sah Ann-Christin weg und spürte plötzlich Ärger in sich aufflammen. Was bildete der Kerl sich eigentlich ein? Er gehörte nicht einmal zur Verwandtschaft.
«Gibt es eigentlich kein Bargeld im Haus?», fragte Gustav, ohne sie anzusehen.
«Wie bitte?» Ann-Christin hatte ihn verstanden, wollte es aber nicht glauben.
«Bargeld. Ihr müsst doch irgendwas im Haus haben. Das Beerdigungsinstitut will einen Abschlag. Die haben angerufen. Hier haben sie es auch versucht, aber du gehst ja nicht ans Telefon.»
Ann-Christin erinnerte sich, gestern den ganzen Tag über immer wieder das Telefon gehört zu haben. Sie hatte nicht einmal die Nummer auf dem Display kontrolliert.
«Hat Tante Verena keine Zeit?»
«Ich bin ja hier.»
«Ich möchte aber, dass Tante Verena sich darum kümmert», sagte Ann-Christin deutlich und mit einer Spur Schärfe in der Stimme.
Gustav wandte ihr erneut den Kopf zu. «Was sagt du da?»
«Du hast an diesem Ordner nichts zu suchen. Tante Verena soll das machen.»
«Ach, sieh mal einer an.» Gustav klappte den Ordner zu, nahm ihn, stand auf und kam auf sie zu. Seine Wangen und Ohren waren stark gerötet. Die Nase war von einem Netz geplatzter Äderchen überzogen. Eine Säufernase, hatte Mama mal gesagt.
«Jetzt bin ich nicht mehr gut genug, oder was? Jetzt, wo deine Mutter unter der Erde ist und du endlich aus deinem Selbstmitleid erwachst.» Er tat so, als schnüffele er. Seine Nasenflügel blähten sich auf. «Hast du endlich mal geduscht, ja? Dann würde ich dir raten, auch zu lüften. Hier stinkt es. Und zwar erbärmlich.»
Da war wieder dieser glasige Blick, als er auf ihre bloßen Schlüsselbeine starrte. Sein rechter Mundwinkel zuckte, er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
«Verschwinde», zischte Ann-Christin. Sie wusste selbst nicht genau, wo das plötzlich herkam, aber ihr Ärger hatte sich in unbändige Wut verwandelt. Sie war so wütend auf diesen widerlichen Trinker.
«Wie bitte?»
«Leg den Ordner zurück und verschwinde!»
«Ach, und dann regelst du alles allein, oder was? Meine Verena ist nämlich nicht dein Babysitter, und wenn ich mich nicht um den finanziellen Kram deiner Mutter kümmere, tut sie es ganz gewiss nicht.»
«Ich tue es ab jetzt selbst. Vielen Dank für deine Hilfe, aber den Rest schaffe ich allein.»
Da lag keine Schwäche und kein Zittern in ihrer Stimme, sie schaffte es sogar, Gustav in die Augen zu sehen. In ihrem Inneren sah es ganz anders aus. Ann-Christin wäre am liebsten vor dem Mann geflüchtet, alles in ihr drängte sie dazu, doch sie wusste, wenn sie das jetzt nicht durchstand, würde sie ihn niemals loswerden.
«Meinst du, ja? Jetzt, wo du ganz allein bist, solltest du deine letzten Freunde nicht verprellen. Oder hast du so viele, dass du es dir leisten kannst?»
Er kam noch ein bisschen näher, streckte seine rechte Hand nach ihrem Kinn aus. Leckte sich abermals über die Oberlippe.
In Ann-Christin brannte eine Sicherung durch. Sie riss ihm den Ordner unter dem Arm weg,
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