Deborah Crombie - 03 Und Ruhe in Frieden 04 Kein Grund zur Trauer
unsanft auf einer Hüfte und einer Hand. Die Hand brannte wie Feuer. Laut schimpfend hob sie sie hoch.
Kincaid kniete neben ihr nieder. »Alles in Ordnung?« Sein Gesichtsausdruck verriet ihr, daß er nur mit Mühe das Lachen zurückhielt, und das machte sie noch wütender.
»Müssen Sie denn auch unbedingt mitten in die Brennesseln greifen?« fragte er, nachdem er ihre Hand genommen und untersucht hatte. Er rieb mit dem Daumen einen Schmutzfleck von ihrem Finger, und bei seiner Berührung brannte ihre Haut fast so heftig wie beim Kontakt mit der Brennessel.
Sie entriß ihm ihre Hand und rappelte sich hoch. Vorsichtig stieg sie zum nächsten Fleckchen trockenen Bodens hinunter.
»Schauen Sie, ob Sie ein Ampferblatt finden«, sagte Kincaid hinter ihr, immer noch Erheiterung im Ton.
»Wozu?« fragte Gemma unwirsch.
»Gegen das Brennen natürlich. Haben Sie als Kind nie Urlaub auf dem Land gemacht?«
»Meine Eltern haben sieben Tage in der Woche gearbeitet«, antwortete sie, ganz gekränkte Würde. Aber dann lenkte sie doch ein. »Manchmal sind wir ans Meer gefahren.«
Sie erinnerte sich daran, und hatte plötzlich wieder den Geruch von feuchter Salzluft und Zuckerwatte in der Nase. Sie spürte wieder die eisige Kälte des Wassers, die glitschige Nässe des Badeanzugs an ihrem Körper, den warmen Sand auf ihrer Haut. Sie dachte an die Zankereien mit ihrer Schwester im Zug nach Hause. Immer hatten sie danach heiß gebadet, warme Suppe gegessen, schläfrig vor dem Feuer gelegen. Einen Moment lang hatte sie Sehnsucht nach diesen Tagen, als alles so einfach gewesen war.
Als sie eine halbe Stunde später den Gipfel erreichten, setzte sie sich dankbar auf eine Bank am Fuß des Turms und ließ sich von Kincaid einen Becher Tee vom Kiosk holen. Ihre Oberschenkel schmerzten von der Anstrengung des Kletterns und ihre Hüfte von dem Sturz, aber als sie von der Höhe über das Hügelland blickte, fühlte sie sich so beschwingt, als hätte sie das Dach der Welt erklommen. Als er mit zwei dampfenden Pappbechern zurückkam, war sie schon wieder bei Atem und sah lächelnd zu ihm auf.
»Jetzt bin ich froh, daß ich mitgekommen bin. Danke.«
Er setzte sich neben sie und reichte ihr einen Becher. »Es heißt, daß man an klaren Tagen vom Turm aus Holland sehen kann. Wie wär’s? Kommen Sie mit?«
Sie schüttelte den Kopf. »Höhen sind mir nicht geheuer. Das hier reicht mir vollkommen.«
Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander, tranken den dampfenden Tee und blickten hinüber zu der grauen Dunstglocke Londons, die im Norden über der Ebene hing. Dann zog Gemma ihre Beine hoch, drehte sich seitlich und hielt ihr Gesicht der Sonne entgegen.
Kincaid machte es ihr nach und beschirmte seine Augen mit der Hand. »Könnte das da drüben am Horizont der Kanal sein?« fragte er.
Gemma spürte das Brennen der Tränen hinter ihren Lidern. Sie konnte nicht sprechen.
Kincaid sah sie an und fragte erschrocken: »Gemma, was ist denn? Ich wollte nicht...«
»Jackie ...« stammelte sie, schluckte und versuchte es noch einmal. »Es ist mir plötzlich eingefallen. Jackie hat gesagt, daß sie in ihrem nächsten Urlaub vielleicht da runter fahren würde. Sie wollte schon immer mal nach Brighton, und dann wollten sie und Susan nach Dover weiterfahren und mit dem Zug durch den Tunnel rüber nach Frankreich. Wenn ich nicht...«
Kincaid nahm ihr den Becher aus den zitternden Händen und stellte ihn auf die Bank. Er legte seine Hand flach auf ihren Rücken und begann langsam kreisend zu reiben. »Gemma, Trauer ist gut und richtig, aber Sie müssen aufhören, sich an Jackies Tod die Schuld zu geben. Erstens wissen wir noch immer nicht mit Sicherheit, ob es da überhaupt einen Zusammenhang gibt. Und selbst wenn ja - Jackie war erwachsen und für ihre Entscheidungen selbst verantwortlich. Sie hat Ihnen geholfen, weil sie es wollte, nicht weil Sie sie dazu gezwungen haben, und sie ist weiter gegangen, als Sie von ihr erwartet haben, weil sie neugierig war. Sehen Sie das denn nicht?«
Mit fest geschlossenen Augen schüttelte sie stumm den Kopf, aber nach einigen Minuten entspannte sie sich unter der warmen Berührung seiner Hand, und das Engegefühl in ihrer Brust begann zu weichen. Sie öffnete die Augen und sah ihn an. Sein Gesicht verriet deutlich seine Sorge um sie. Sie dachte daran, daß er extra mitten in der Nacht von Surrey nach London gefahren war, um zu
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